Vor einiger Zeit kam ich in der Stadt an einer Goldscheider-Porzellanskulptur von Maria Jeriza vorbei, einer Opernsängerin, die 1910 ihre Karriere an der Volksoper begann. Und das erstaunliche daran: Ich war mit ihrem damaligen Ehemann, Baron Leopold von Popper-Podhragy, bekannt!
Podhragy war eine hochinteressante Persönlichkeit: 1886 in eine äußerst wohlhabende Familie geboren – der Vater verdiente in der Holzindustrie ein Vermögen, lieferte das Bauholz für den Suezkanal, die Mutter, Blanche Marchesi, Opernsängerin – war er geschäftlich höchst erfolgreich. Er war Eigentümer des Bankhauses Herrmann Korti & Co, der Britisch-Österreichischen Bank, der Amerikanisch-Ungarischen Bank und der Hammer & Co. Granitwerke. Grundstücke in Baden und der halbe Wiener Schafberg waren in seinem Besitz; mit Kaiser Karl war er gut bekannt. Um 1920 hat er in St. Corona am Wechsel das letzte Schloss Österreichs erbaut, den Handwerkern gewährte er großzügige Kredite. Ab 1934 unterstützte er die Regierung Dollfuß, bevor er 1939 vor den Nazis nach London flüchtete – von dort aus arbeitete er für den Widerstand. Nach dem Krieg kam er zurück nach Österreich. Das Schloss wird 1983 verkauft, in bescheidenen Verhältnissen stirbt er am 17.1.1986 hundertjährig in Wien: Ein Mensch aus ferner Vergangenheit, in einer ihm fremden Epoche gestrandet.
Ich kenne Joachim Luetke ja schon länger, allerdings nicht sehr gut; es begann mit den „Böse-Buben-Treffen“, bei denen sich ältere Herren, gerne langhaarig, zu launigen Gesprächen treffen und dabei grimmig dreinschauen, um wen netten kennen zu lernen. Jahre später flirtete Joachim auf Facebook ausreichend konsequent mit meiner Freundin, um ihr zu ermöglichen, uns frech bei ihm einzuladen. Und gut wars: Am Fuß der romantischen Semmering-Bahnstrecke, im Mikrokosmos der ehemaligen Papierfabrik Schlöglmühl, hat sich der Multimediakünstler eine morbid-elegante Wunderkammer geschaffen.
Joachim hat in Wien bei Hausner studiert, die Surrealisten waren erste Inspiration, H.R.Giger dann das Leitmotiv. Mir haben seine Skulpturen, leider unbezahlbar, immer am besten gefallen, sie wirken wie von Alien-Filmsets übriggeblieben und spielen mit Verfall, Tod oder politisch verwerflichen Symbolen: geknechtete und bandagierte Säuglinge mit Füßen aus Hühnerkrallen, verrostete Klonkrieger, skelettierte Generäle mit einem Durchlauferhitzer als Unterleib – archaisch und grandios. Der internationale Erfolg ließ sich nicht vermeiden, Stars von Marylin Manson abwärts baten um Plattencovers, die Suche nach den Brüchen des Menschseins bestimmten den Stil.
In früheren Interviews betonte Joachim die Doppelbödigkeit der Realitäten und Religionen; ich persönlich mag ja die Anekdoten, die doppelten Brüche, die wahren Skurrilitäten: Wenn die Protagonisten dunkel-mystischer Zwischenwelten in die banale Realität kippen, beispielsweise die immer weiß geschminkte, transgeschlechtliche Diva Anna-Varney Cantodea (Sopor Aeternus & The Ensemble of Shadows), zu Gast für Fotoproduktionen im Narrenturm, mit den Zeugen Jehovas an der Studiotür zusammentrifft – das Thema satanisch-queere Inklusion dürfte zu sperrig gewesen sein, und über die Bibel wollten sie dann auch nicht sprechen.
An einem warmen Spätsommertag sitzen wir im weichen Licht der historischen Veranda, trinken G’spritzten und knabbern am Mohnstrudel; ich fühle mich wohl, weil alles im Blickfeld einfach schön ist. Die Symbole und Reliquien sind stimmig arrangiert, die Sonne lässt einen Schädel aufglühen, die Spinnweben glitzern; „Nein, Putzfrau habe ich keine, die würden doch alle davonlaufen!“ – selbst haben mich Totenköpfe und Menschenknochen nie irritiert, es sind schlichte, natürliche Gegenstände wie Äste oder Hirschgeweihe und schon deswegen einfach ästhetisch.
„Wie stellst du dir deinen Tod vor“, fragt meine Freundin unvermittelt, wie es ihre Art ist, und inmitten der sorgsam angerichteten Schönheit in der Jugendstilvilla wird Joachim unspektakulär pragmatisch. „Im Liegestuhl im Garten, wenn die Sonne durch die Blätter blinkt“: All der inszenierte Grusel löst sich auf, Joachim zieht sich die Gummistiefel an, und wir gehen hinaus in die samtige Luft des späten Nachmittags. Tatsächlich war die in der Semmeringlandschaft eingebettete Villa in den letzten 120 Jahren Schauplatz einiger echter Tragödien; nun, als Schatulle für Versatzstücke dunkler Welten, erlebt sie ihre vielleicht friedlichste Epoche.
Ein Fotoauftrag für einen Autobushersteller führte mich am Samstag nach Lienz in Osttirol, und so kam es, dass ich mit einem Buszug einen Ausflug auf die Bergstraßen rund ums Mölltal machte. Tirol ist ja was eigenes – es sind robuste Menschen dort, die „aussefoarn“, wenn sie auf Reisen gehen, mit dir per du sind („woha kimmschd’n lei‘?“) und eine Sprache pflegen, die weniger aus Dialogen, vielmehr aus Feststellungen ohne Widerspruchsmöglichkeit besteht. Die Vokale werden dabei ausgeschmiert wie ein Reindl mit Kässpätzle, und die vielen weichen SCH sind das Fett, auf dem die Sätze daher rutschen.
Dann hatte ich noch ein wenig Zeit für Lienz, und was soll ich sagen – prachtvoller hat sich noch kaum ein Herbst von mir verabschiedet. Dis Stadt ist angenehm belebt, der Hauptplatz voll mit Menschen im T-Shirt, in den Gastgärten alle Tische besetzt. Überall merkt man, dass hier das Geld herkommt, das dann in Wien veruntreut wird – in den Cafes ist das letzte Abstellkammerl neben dem Klo im Keller massiv mit Marmor und Granit verfliest, die Türblätter schwer, die Möbel teuer.
Budapest, vor einigen Tagen (Sommer 2015). Der Keleti-Bahnhof (von dem die Züge nach Westeuropa fahren) ist belagert – von Wochenendtouristen, Interrailjugendlichen und Flüchtlingen. Vor dem Bahnhof gibt es nicht nur 35°C, sondern auch eine Betreuungseinrichtung und Wasser, ein schattiger Bereich ist provisorisch etwas abgetrennt. Im Park nebenan waschen die Menschen ihre Leiberln.
Dann, im Zug nach Wien, im bunt gefüllten Speisewagen, zwischen bierseligen Jugendlichen und ungarischen Kellnern nebst meiner Wenigkeit eine Familie, deren Outfit ebenso heraussticht wie die überdeutliche Unsicherheit, mit der sie sich in den Wagen drückt. Ich wundere mich, dass die Familie mit dem Railjet nach Wien reist und gehe nicht davon aus, dass sie das Ziel erreichen wird. Scheu setzt sich der etwa 15jährige Sohn mit seiner kleinen Schwester auf den leeren Sitzplatz, mir gegenüber, nachdem ich ihm deutete Platz zu nehmen; ich lächle ihn an, frage ihn, „english? francais? deutsch?“, die Antwort ist jedesmal ein bedauerndes kopfschütteln. Er ist gut erzogen, das merke ich an seinen Bewegungen und seiner Art; ordentlicher Haarschnitt, paar Pubertätspickel, Bartflaum.
Ich beschließe ihn zum Essen einzuladen, sobald wir unterwegs sind. Soweit kommt es nicht – die Grenzpolizei erscheint, „Passport?“, die Familie wird noch kleiner als sie schon ist; in Kelenföld – dem Budapester Meidling – ist die Fahrt schon wieder zu Ende. So deutlich wie kaum je spüre ich die weit offene Schere zwischen meinem grenzenlosen Europa und dem der Flüchtlinge. Während die traurige Kolonne auf den Bahnsteig bugsiert wird, kommt mein Karottenschaumsüppchen; der junge Mann schaut noch einmal durchs Fenster zu mir herauf, ich hätte es ihm gerne überlassen.
Persönlich tut er mir unendlich leid, gleichzeitig ist mir die Verzweiflung bewusst: ohne Sprachkenntnisse, ohne Pass, ohne Netzwerk und Struktur ein neues Leben in einer völlig fremden Welt zu beginnen scheint chancenlos. Trotzdem verfluche ich unsere Politik: sie scheitert teils absichtlich an der einfachen Aufgabe, paar tausend Menschen unterzubringen, jeder Unternehmer hätte den Job in paar Tagen locker gelöst. Dabei kommt die eigentliche Herausforderung erst: Es werden noch viel mehr folgen, und sie wären (noch) hochmotiviert, sich für ihre neue Heimat einzusetzen. Dieses Momentum nicht zu nutzen ist ein riesiger Schaden für das Land, und ich sehe rabenschwarz, wenn es schon bei den recht einfachen Problemstellungen in Traiskirchen scheitert.
Ich schreibe heute von einem bizarren Ort, es ist ein – luxuriöser – Pendlerbus, weiß und riesig, der mich, Abfahrt 20.15 vom Karlsplatz, in ein südburgenländisches Dorf namens Güssing bringt. Als Pazifist bin ich der richtige, morgen eine neue Kaserne unseres Bundesheeres fotografisch zu dokumentieren (“Wenn Österreich Deutschland den Krieg erklärt, ist das ein Fall für die Freiwillige Feuerwehr von Passau”). Um mich herum Busstammgäste, Pendler, die bis zu 2 1/2 Stunden nach Hause fahren, täglich oder zumindest wöchentlich. Grade haben wir die Grenze von Wien zurückgelassen, es geht durch amerikanisch gestaltete Ausfallstraßen, alles bunt, grüne Ampeln, gelbe McDo-Logos, rote Puffs, drive in, drive through, wohin ist egal. Essen, ficken, weiter. Autowelt. Männerwelt. Laut, aber einfach. Die Motorbienen kommen herangebrummt, befruchten Tankstellen, Baumärkte, leichte Mädchen, und weiter gehts. Es muss weitergehn. Immer weiter. Grad gehts entlang der “Shopping City” weiter, an der „blauen Lagune“ vorbei, der Fertighaus-Ausstellung mitten zwischen Gewerbekisten und Autobahnkringeln, ganz lebensecht ist sie hergerichtet, bezugsfertig, mit Lichtern, Zimmerpflanzen, Möbeln und alles. Ich wette, der Verkaufsleiter sitzt am Klo und kackt, um die Sache endgültig glaubhaft zu machen. Ssssspp- schon wieder vorbei, jetzt Autobahn, Nebel, Business-Park, blaue Schilder.
Ich hab ja kein Auto.
Ortlose Gegend, kurz schnurren wir die Autobahn nach Süden, dann geht’s aber runter, der Monsterbus dringt ein ins flache Land. Wir bleiben an einer Tankstelle im Nebel stehen, eine Umsteigestation, ein Kleinbus wartet auf die armen Tröpfe, die noch nicht zuhause sind. Pendler-Stafettenlauf, ein mir bisher unbekanntes Netzwerk von Abhängigkeiten, übers flache Land geworfen. Ich hingegen fahre direkt und finde immer mehr Gefallen an meinem warmen Aussichtsplatz hinter der großen Scheibe, die mich vom Nebel trennt. Die Stationen heißen Unterschützen Hauptplatz, Pinkafeld Raiffeisenbank oder Oberwart Park&Ride; Unterschiede sind keine zu sehen, bei Nacht sind alle Tankstellen gelb. Am Hauptplatz von Oberschützen gibts allerdings ein „Cafe Miau“, ich komme wieder und kehre ein, versprochen! Aber was zum Teufel ist eine Erlebnistankstelle?
Im Hotel bin ich Protagonist eines Roadmovies, directed by „Dr.Richard Busbetriebe“. Ich wurde von einem weißen Wal an den Strand einer unbekannten Industriezone in Güssicon Valley gespuckt, und während er im Dunkel verschwindet, ziehen Nebelschwaden vorbei an einem Kraftwerk im Neonlicht. Kein Fahrzeug auf der Bundesstraße, und garkeines auf der Industriestraße, in die ich einbiege. Wanderer sind hier selten um die Jahreszeit. Vorbei an dem sirrenden Kraft- und dem verhalten röhrenden Sägewerk geht’s die kleine Straße hinauf, am Ende ein Lichtdom Speer’scher Art, Miniaturflakscheinwerfer bestrahlen den Nebel von unten.
Das Hotel ist leer, meine Schlüsselkarte außen an die Tür geklebt (ob das klappt? war meine Sorge), das Ambiente innen ein scharfer Kontrast zur Unwirklichkeit draußen. Oder auch nicht, es wirkt kulissenhaft, an den Wänden Fotos der schönsten Garage der Umgebung, der Einfachheit halber zeigen alle Bilder dasselbe Motiv. Egal – das Bett ist warm & weich, es ist absolut still, man hört nichts. Mich begleitet ein Buch namens „Zeit aus den Fugen“, der Autor (Philip K. Dick) schrieb auch die Vorlagen zu „Blade Runner“ oder „Minority Report“ – das Buch hat dasselbe Thema wie die „Truman Show“, spiel ich darin plötzlich mit? Ich bekomm ein wenig Angst.
Nächster Tag. Die seltsame Hotelzimmer/Aussicht-Schere offenbart sich. In der Nacht war die Schönheit der Umgebung im schwarzen Nebel verborgen. Der Container hat sich belebt, das Frühstück ist unauffällig, eine für ihr Alter zu schrillbunt gekleidete Frau kommt rein – und dann noch eine, genauso angezogen, da komm ich erst drauf, es ist die Tracht des Personals, irgendein Marketingleiter lässt diese armen burgenländischen Bäuerinnen rumlaufen wie Clowns. Weg von hier. Ich rücke ich in die Kaserne ein.
Am Nachmittag: Rückfahrt, der weiße Wal taucht aus den Wellen der burgenländischen Landschaft auf, nur Käpt’n Ahab ist ein anderer. Mein Platz vorne ist wieder frei, diesmal ist es noch Tag. So ein Ausflug ist ja viel einzigartiger als eine meiner Reisen nach Frankreich: nach Güssing komm ich nie wieder, in das Hotel komm ich nie wieder, auch in die Kaserne: nie wieder. Aber jetzt noch einmal vorbei an ihr, noch einmal um den Kreisverkehr, adieu, du Kraftwerk, das du mich gestern so beruhigend brummend empfingst! Jetzt seh ich erst die Landschaft, wir zweigen dauernd von der Hauptstraße ab, um die Dörfer (Park & Ride, Raiffeisen, Hauptplatz…) abzuklappern, überall steigen Schüler ein und Bauern aus, sie haben eine seltsam bellende Sprache, meine Schwester redet inzwischen auch so, sie lebt in der Region – 8 Jahre Privatgymnasium Sacre Coeur beim Fenster rausgeschmissen, meine Mutter würde leiden.
Die Ansiedlungen: vom modernen Leben vergewaltigte niedere Bauerndörfer, von den echtesten, den ursprünglichsten der Häuser hat man sich abgewandt, sie verfallen; stattdessen hat man die Orte mit den Häusern hochgerüstet, die ich bei der Hinfahrt am Autobahnkreisel der Blauen Lagune sah. Früher waren die Dörfer schmucklos, heute geschmacklos, paniert mit allem was der Baumarkt hergibt. Umgeben sind sie mit Gewerbekisten, die zusammenhanglos in der Landschaft schwimmen, viel zu groß, zu derb, zu bunt. Glücklicherweise kommt wieder Nebel auf.
Der Bus ist voll, die Jugendlichen (Berufsschule für landwirtschaftliche Gewerbe und ähnliches, man studiert selten Philosophie in dieser Region) schnattern. Autobahn, komm! Und da ist sie schon, es ist dunkel inzwischen, über den roten Rücklichtpunkten der Weggenossen schwebe ich nach Wien. Schön wars, eigentlich ein lehrreicher Ausflug; und: fein, mit euch zu reisen.