Aus dem Buch "Brüsel" Mit freundlicher genehmigung von mit freundlicher Genehmigung von François Schuiten

In der Welt der Geheimnisvollen Städte

François Schuiten ist ein Star der belgisch-französischen Comicszene; Graphic Novels haben im französischsprachigen Raum eine ungleich höhere Wertschätzung als in Deutschland oder Österreich. Berühmt geworden ist er mit der Alben-Serie „Die geheimnisvollen Städte“, die er zusammen mit dem Autor Benoît Peeters geschaffen hat. Schuiten stammt aus einer Architektenfamilie; als Kind sah er Modelle und Zeichnungen, hat die katastrophale Entwicklung Brüssels seit den 1960er-Jahren miterlebt: „Brüsselisierung“ ist ein eigenes Architekturfachwort, das die rücksichtslose Opferung historischer Stadtstrukturen beschreibt.

Die Serie der „Cités Obscures“ erzählt dystopische Geschichten, in der die Städte einer mysteriösen Parallelwelt die Hauptrolle spielen: ähnlich der Realen, aber leicht verschoben, voller kunstgeschichtlicher Andeutungen, Verknüpfungen, versteckter Hinweise. Dabei berühren sich die Welten manchmal sogar, wie in der Pariser Metrostation „Arts et Métiers“, die Schuiten gestaltet hat; auch das Brüsseler Museum „Train World“, das Maison Autrique des Jugendstilarchitekten Victor Horta und zahlreiche andere Ausstellungen wurden von ihm entworfen und damit Teil des Vexierspiels.

Während in „Die Mauern von Samaris“ eine Stadt ganz im Stil von Victor Horta idealisiertes Spiegelbild Brüssels ist, behandelt das zentrale Werk „Brüsel“ die städtebauliche Katastrophe der belgischen Hauptstadt, die Zerstörung durch die Bauspekulation, den Größenwahn. „Brüssel hat die Verbindung zu sich selbst und seiner Geschichte verloren. Die Stadt ist wie mit einem Messer in Stücke geschnitten worden; das Zeichnen hilft da ein wenig beim Heilen. Als Zeichner mache ich Schneiderarbeit und versuche die Wunden zu vernähen“, sagt Schuiten im Interview.

Nirgendwo ist man den dunklen Städten näher als im Pariser Atelier von Schuiten. Es ist ein kleines, lichtes Haus in einem Arrondissement, in dem Paris noch ein wenig seiner Ursprünglichkeit bewahrt hat, und ein Schatzkästchen voller Artefakte: Ich kann ihren jeweiligen Platz im Universum der „Dunklen Städte“ präzise verorten. Es ist für mich ein aufregender Besuch; meine Interessen drehten sich immer um Architektur, Urbanismus und Soziologie, die „Dunklen Städte“ waren mir seit dem ersten Band seelenverwandt. Hier bin ich in der Herzkammer dieser Welt, und ein Phänomen tritt auf, das ich von meinen Architekturprojekten kenne: Gedachtes, Gezeichnetes klappt aus der Phantasie in den dreidimensionalen Raum, während Schuiten mit kraftvollen, ausladenden Gesten über Details der von ihm geschaffenen Welten und künftigen Projekten spricht. Zwischendurch greift er immer wieder zur Tuschefeder, während unseres Gesprächs entsteht ein Portrait von Captain Nemo, dem Held des letzten Bandes der „Cités Obscures“. Präzise und scheinbar mühelos setzt Schuiten im Stil alter Kupferstiche Strich neben Strich.

„Die Rückkehr von Kapitän Nemo“ wird möglicherweise der letzte Band der Serie und verknüpft Jules Vernes Buch „20.000 Meilen unter dem Meer“ mit dem „Dunklen Kontinent“. Neben Vernes Romanheld ist ein Hybridwesen aus Octopus und Nautilus Hauptdarsteller, und als riesige Metallskulptur ist es auch Teil eines Projekts für die Heimatstadt des Autors. In Amiens entsteht mit „Auf den Spuren von Jules Verne“ ein Pfad mit Erinnerungsorten und Kunstwerken, hier wird die Skulptur künftig auf einer Terrasse über der Stadt thronen. Ab Dezember wird sie sich aber für einige Monate vor dem Brüsseler Justizpalast aus dem Boden tauchen – auch dieses monströse historische Gebäude spielt eine wiederkehrende Hauptrolle in den „Geheimnisvollen Städten“. Auf seiner Reise verbindet der Octo-Nautilus von Kapitän Nemo damit reale und utopische Welten in einer Stadt, die sich mit ihrer Geschichte und ihren Möglichkeiten immer schwer getan hat.

Altaplana.be – eine umfangreiche Seite zu den Geheimnisvollen Städten
Atlantic12.com – Druckgrafik von François Schuiten
François Schuiten auf Facebook

Veröffentlichung der Bilder mit freundlicher Genehmigung von François Schuiten

Joachim Luetke

Joachim Luetke

Ich kenne Joachim Luetke ja schon länger, allerdings nicht sehr gut; es begann mit den „Böse-Buben-Treffen“, bei denen sich ältere Herren, gerne langhaarig, zu launigen Gesprächen treffen und dabei grimmig dreinschauen, um wen netten kennen zu lernen. Jahre später flirtete Joachim auf Facebook ausreichend konsequent mit meiner Freundin, um ihr zu ermöglichen, uns frech bei ihm einzuladen. Und gut wars: Am Fuß der romantischen Semmering-Bahnstrecke, im Mikrokosmos der ehemaligen Papierfabrik Schlöglmühl, hat sich der Multimediakünstler eine morbid-elegante Wunderkammer geschaffen.

Joachim hat in Wien bei Hausner studiert, die Surrealisten waren erste Inspiration, H.R.Giger dann das Leitmotiv. Mir haben seine Skulpturen, leider unbezahlbar, immer am besten gefallen, sie wirken wie von Alien-Filmsets übriggeblieben und spielen mit Verfall, Tod oder politisch verwerflichen Symbolen: geknechtete und bandagierte Säuglinge mit Füßen aus Hühnerkrallen, verrostete Klonkrieger, skelettierte Generäle mit einem Durchlauferhitzer als Unterleib – archaisch und grandios. Der internationale Erfolg ließ sich nicht vermeiden, Stars von Marylin Manson abwärts baten um Plattencovers, die Suche nach den Brüchen des Menschseins bestimmten den Stil.

In früheren Interviews betonte Joachim die Doppelbödigkeit der Realitäten und Religionen; ich persönlich mag ja die Anekdoten, die doppelten Brüche, die wahren Skurrilitäten: Wenn die Protagonisten dunkel-mystischer Zwischenwelten in die banale Realität kippen, beispielsweise die immer weiß geschminkte, transgeschlechtliche Diva Anna-Varney Cantodea (Sopor Aeternus & The Ensemble of Shadows), zu Gast für Fotoproduktionen im Narrenturm, mit den Zeugen Jehovas an der Studiotür zusammentrifft – das Thema satanisch-queere Inklusion dürfte zu sperrig gewesen sein, und über die Bibel wollten sie dann auch nicht sprechen.

An einem warmen Spätsommertag sitzen wir im weichen Licht der historischen Veranda, trinken G’spritzten und knabbern am Mohnstrudel; ich fühle mich wohl, weil alles im Blickfeld einfach schön ist. Die Symbole und Reliquien sind stimmig arrangiert, die Sonne lässt einen Schädel aufglühen, die Spinnweben glitzern; „Nein, Putzfrau habe ich keine, die würden doch alle davonlaufen!“ – selbst haben mich Totenköpfe und Menschenknochen nie irritiert, es sind schlichte, natürliche Gegenstände wie Äste oder Hirschgeweihe und schon deswegen einfach ästhetisch.

„Wie stellst du dir deinen Tod vor“, fragt meine Freundin unvermittelt, wie es ihre Art ist, und inmitten der sorgsam angerichteten Schönheit in der Jugendstilvilla wird Joachim unspektakulär pragmatisch. „Im Liegestuhl im Garten, wenn die Sonne durch die Blätter blinkt“: All der inszenierte Grusel löst sich auf, Joachim zieht sich die Gummistiefel an, und wir gehen hinaus in die samtige Luft des späten Nachmittags. Tatsächlich war die in der Semmeringlandschaft eingebettete Villa in den letzten 120 Jahren Schauplatz einiger echter Tragödien; nun, als Schatulle für Versatzstücke dunkler Welten, erlebt sie ihre vielleicht friedlichste Epoche.

Links:
Sopor Aeternus
Joachim Luetke (leider veraltet)
Joachim Luetke auf Facebook

Paris

Paris

Paris: das sind die Schwalben in den Sommergassen, das ist Klaviermusik straßenseitig und Geigenspiel vom Hof, das sind weißblaue Emailschilder, das ist Baguette und Camembert und billiger Rotwein im Parc Montsouris; Paris ist ein flüchtiges fremdes Lächeln aus dem Nebenwaggon der Metro beim Halt in der Station, ist das Plätschern der Bäche, die am Morgen die Straßenränder fluten, Paris sind alte Bücher und neue Geschichten. Paris sind Füße, die nicht so viel gehen können wie die Augen sehen wollen. Paris ist weit an der Seine und eng unterm Dach am Montmartre:

Paris ist das Leben, Paris ist die Liebe, Paris ist die ganze Welt.

Unter den Straßen der Lichterstadt

Unter den Straßen der Lichterstadt

Paris war der erste Ort, der mir neben Wien zu einer Art Heimat wurde: Mit 16 wurde ich dorthin geschickt, um Französisch zu lernen. Es war gleichzeitig der erste Ort, an dem ich wirklich frei war, abgekoppelt von Zwängen und Familienstrukturen, die mich in Wien beschränkten.

Es war wahrscheinlich kein Zufall, dass meine Suche nach besonderen Plätzen dann gerade in Paris begann: Alle unsere Geschichten, die wir mit uns tragen, sind untrennbar verflochten mit den Orten, an denen wie sie erleben. Bis heute ist diese Stadt mein Sehnsuchtsort, meine zweite Heimat, meine heimliche Geliebte, während ich mit Wien quasi verheiratet bin.

Meine Suche nach „ Lost Places “ hat sich in den letzten Jahren wie von selbst nach Paris verlagert; mir scheint, dass Wien inzwischen nicht mehr ausreichend viele Geheimnisse bietet. Die „ Lichterstadt “ ist dagegen auch ein Ort der Schatten; unter der Metropole warten unglaubliche Plätze darauf, legal oder illegal erforscht zu werden: die kafkaesken Gänge und schwarzen Schächte der Metro, die den Pulsschlag der Stadt bestimmt, oder die tief unter den Straßen liegenden Katakomben und Steinbrüche, aus denen vor Jahrhunderten das Baumaterial für die Häuser darüber gebrochen wurde.

Paris, Metro, in einem alten Metrozug, abgestellt irgendwo im Gleisgewirr

Wieder einmal finde ich mich auf „Forschungsmission“ , mit einer kleinen Gruppe von „Cataphiles“, Freunden der Unterwelt; eine unauffällige Tür in einer abgelegenen Metrostation, der irgendwie organisierte richtige Schlüssel – und wir streifen durch stillgelegte Metrotunnels, durch ehemalige Kraftzentralen, durch vergessene Labyrinthe aufgelassener Haltestellen. Jahrzehntealte Werbung hat sich an den Wänden erhalten, und vor uns führt ein dunkler Schacht ins Ungewisse.

Das Netz aus Tunnels ist das Wurzelwerk der Stadt, und die Lust, es zu erforschen, ähnelt der Suche nach den eigenen Wurzeln. Und so wird die Suche nach den magischen Orten, den eigenartigen Anekdoten zum Spiegelbild der Suche nach der eigenen Geschichte. Ein uralter Metrowagen, außen mit Sprayfarbe verunstaltet: Mich ziehen die Sitze, Wände und Böden an, die seit Jahrzehnten niemand mehr berührt hat. Diese Type verkehrte noch, als ich zum ersten Mal hier war, vielleicht bin ich selbst vor vierzig Jahren hier gesessen. Diese Tunnels mit ihren Verzweigungen und rätselhaften Gleisen, die sich irgendwo im Dunkel verlieren, machen mich neugierig auf die Abenteuer, die vor mir liegen. Ich folge den Schienen von den abgestellten Wagen zur Hauptlinie, Züge donnern an mir vorbei.

Für den futuristischen Maler Gino Severini war die Metro „ein illuminierter Körper, der durch einen abwechselnd dunklen und erleuchteten Tunnel fließt“ ; Bei all der Suche nach vergangenen, verlorenen Orten denke ich aber auch an die Entdeckungen, die noch vor mir liegen und damit an einen Satz des russischen Fotografen Alexander Rodtschenko: „Die Zukunft ist unser einziges Ziel“.

Fotos: https://www.viennaslide.com/features/Paris-Metro/

Für das Feuilleton der Wiener Tageszeitung Die Presse habe ich einen etwas ausführlicheren Artikel dazu verfasst: http://www.mauerspiel.at/texte/2024-07-20-Presse-Spectrum-Metro.pdf

Meine liebe Freundin Céline hat auf ihrem Blog über das Verschwinden des Métrotickets geschrieben: https://feelingparis.net/adieu-kleines-metroticket/

Das Sommermärchen in der Corneliusgasse

Das Sommermärchen in der Corneliusgasse

Die Corneliusgasse ist eine völlig nebensächliche kurze Gasse mitten in Wien, etwas ansteigend, voll mit geparkten Autos. Gerade mal die Stiege am Ende der Sackgasse, sie führt zur zwei Stockwerke höher liegenden Straße, ist vielleicht erwähnenswert, aber nichtmal sie hat was Besonderes – eine kahle Betontreppe, Romantik sieht anders aus. Das änderte sich an einem Weekend im August schlagartig: Da wurde die Gasse plötzlich Sehnsuchtsort tausender junger Mädchen, wurde zum Treffpunkt – und die überraschten Anrainer wussten nicht, wie ihnen geschieht.

Im August 2024 fluten fast 200.000 junge Menschen die Stadt, zu 95% weiblich – die „Swifties“ kamen, Fans von Taylor Swift, dem derzeit erfolgreichsten Popstar weltweit, älteren Musikliebhabern unbekannt. Und da ist dann noch ein verpeilter Jugendlicher, 19 Jahre alt, seine Stars die anonymen Fusselbärte des bizarren „Islamischen Staats“. Er und ein Kumpel wurden zwar erfolgreich verhaftet, trotzdem war die Exekutive ausreichend alarmiert, das Großereignis abzusagen; tragisch, dass sich die Behörden außerstande sahen, eine normale Stadionveranstaltung sicher durchzuführen. Es wurde viel geweint in den Stunden nach dem Schock, die Swifties, erst bitter enttäuscht, waren dann aber wild entschlossen, das Beste draus zu machen. Und die Corneliusgasse wurde zur Ersatzlocation: Ein Song des Stars dreht sich um ihren früheren Wohnort Cornelia Street, und nichtmal die grundsätzlich grantigen Wiener Bewohner der grauen Nebengasse konnten sich der Lebensfreude der aus der ganzen Welt angereisten Mädels entziehen.

Ein Glitzern liegt über der Stadt

200.000 junge Menschen – auch in einer Großstadt wie Wien ist deren Anwesenheit nicht zu übersehen. Und die Stadt hat auf die Absage fantastisch reagiert: Freier Eintritt in etlichen Museen oder Schwimmbädern, die Clubs haben sich dem angeschlossen, haben die Öffnungszeiten ans Alter der Swifties angepasst und vieles mehr. Auf der Mariahilferstraße, am Stephansplatz, in der Corneliusgasse – überall Pailletten zu sehen, die Songs zu hören, Fischerchöre nichts dagegen! Freundschaftsbändchen an jedem Handgelenk, auch bei den gut gelaunten Polizisten: Achtsamkeit statt Achter. Plötzlich werden auch im Gesicht des grauhaarigen Kommandanten die Lachfalten sichtbar, plötzlich ist auch er mit Perlenarmbändern behängt, während seine Untergebenen ihr Schulenglisch hervorholen, um vor den Amerikanerinnen zu brillieren. Und die Anrainer feiern aus den Fenstern mit, reichen Wasserbecher raus, aus dem zweiten Stock flattern ausgedruckte Zettel – „Cornelia Street“ steht auf dem rasch gestalteten blauen Wiener Straßenschild aus Papier.

Das ist die eigentliche Überraschung, wenn man in die Corneliuscrowd, in das Wiener Sommermärchen eintaucht: die ansteckende unerschütterliche Lebensfreude. Es sind junge und sehr junge Mädchen, die hier ihre Hymnen singen, sie handeln von Liebe, von Trennungen, vom erwachsen werden, von Empowerment; es sind Gesichter, die sich gerade auf die Reise vom Kind- zum Frausein gemacht haben, mit Proviant aus stärkenden Liedern: Heartbreakers gonna break, and the fakers gonna fake, Baby, I′m just gonna shake it off…

Im hereinbrechenden Abend glitzern Handylämpchen über der Menge, und hochgehaltene Hände formen Herzen – nun wird sogar die Corneliusstiege romantisch wie die Treppen des Montmartre. Dann wird es langsam stiller; um 23.00 ist Nachtruhe, und langsam löst sich die Party auf. Am nächsten Tag, Sonntag, nur noch Spuren, eine kleines Grüppchen steht um den glasperlenverzierten Baum und singt, diesmal klingt es wie eine stille Andacht. Kreideaufschriften am Boden: We can do it with a broken heart, steht da, Fearless, oder Fuck the Patriarchy – tatsächlich haben drei junge Männer, denen die Kraft westlicher Frauen unerträglich war, zu vielen den Spaß verdorben. Sich von solchen Leuten nicht einschüchtern zu lassen – das muss unsere Demokratie von den jungen Swifties lernen, die der Stadt gezeigt haben, wie man Lebensfreude lebt.