…auf meinem kleinen Blog – hier lege ich die Kleinigkeiten ab, die mir so einfallen und die nirgendwo sonst hinpassen, ohne großen Anspruch auf Qualität. Manches sind Notizen, die ich auf Sozialen Medien veröffentlicht habe und die ich doch dauerhafter bei der Hand haben will, manches einfach Gedanken, Beobachtungen, Geschichtchen – was einem schreibenden Fotografen oder fotografierenden Autor halt so unterkommt.
Die Zeit der Luxuszüge
Zum ausgehenden 19. Jahrhundert entwickelt ein Unternehmen seinen bis heute legendären Ruf: Die Compagnie Internationale des Wagons-Lits.
Es war ein junger Belgier, der nach einer Amerikareise so beeindruckt von den bequemen Pullman-Wagen war, dass er ähnliches in Europa versuchen wollte: Georges Nagelmackers überzeugte Bahngesellschaften vom Nutzen, Schlaf- und Speisewagen in ihren Zügen mitzuführen und erarbeitete sich rasch das Monopol auf derartige Leistungen. Vom Erfolg beflügelt, wagt er rasch den nächsten Schritt, und schon bald rollte der erste nur aus Nagelmackers eigenen Wagen zusammengestellte Luxuszug von Paris Richtung Konstantinopel.
Um die Jahrhundertwende ist die Eisenbahn das wichtigste Landverkehrsmittel. In den nächsten Jahrzehnten erreichen die Dampflokomotiven den Höhepunkt ihrer technischen Entwicklung, das Auto spielt als Konkurrenz noch keine Rolle, gut ausgebaute Fernstraßen gibt es nicht. Immer mehr eigene Züge führt die Internationale Schlafwagengesellschaft, alle tragen klangvolle Namen: „Le Train Bleu“, „Süd-Express“, „Étoile du Nord“ oder „Fleche d’Or“ stehen bis heute für den Luxus, mit dem man damals Europa bereiste.
König der Züge ist der legendäre Orient-Express, ein Luxuszug, der mit seinen Zubringer- und Kurswagen wie ein geflochtenes Band Paris mit Konstantinopel verbindet. Genutzt wird er von den Berühmtheiten der Epoche: Königen, Hochadel, Diplomaten, Politiker, indischen Maharadschas und arabischen Scheichs – aber auch von Agenten, Spionen und Drogenschmugglern. Der bulgarische König gehört ebenso zu den Stammgästen wie der Herzog von Windsor, der Bankier Carl Fürstenberg, der spätere US-Präsident Herbert Hoover, der Schriftsteller Graham Greene oder die Tänzerin Mata Hari. Um viele der Reisenden ranken sich Legenden, der Autorin Agatha Christie dient der nachtblaue Zug als Schauplatz ihres berühmten Krimis „Mord im Orient Express.“ Die in den 1930er Jahren unruhiger werdenden Zeiten betreffen auch das rollende First-Class-Hotel: 1931 beschädigt eine Bombe der ungarischen Faschisten die Brücke von Biotobargy in der Nähe von Budapest. Der Orient-Express stürzt in die Tiefe, etwa 20 Menschen kommen ums Leben.
Nach dem zweiten Weltkrieg blieb dem Zug nur noch der klangvolle Namen; für Luxus gab es in den grauen Jahren nach der Weltkatastrophe kein Platz mehr. Als normaler Fernzug verkehrte er 1977 letztmalig zwischen Paris und Istambul, danach wurde er immer weiter verkürzt, der letzte relevante Zuglauf war ab 2002 Wien-Paris. Mit dem Ausbau der Hochgeschwindigkeitsstrecken wollte die französische Staatsbahn keine Konkurrenz für ihre TGVs und kappte den Zug in Strasbourg. Dieser klägliche Rest konnte sich nicht lange halten, im Dezember 2009 verschwand die Bezeichnung Orient-Express aus Europas Kursbüchern. Heute bieten private Veranstalter Luxusreisen in historischen Waggons an, meist mit Namen, die an die große Zeit der großen Züge erinnern.
Weitere Bilder zum Orient-Express
Linz: Die Ars Electronica in der Post City
Mit dem Abriss der Post-City verliert Linz die interessanteste Ausstellungs-Location Österreichs
Es ist ein moderner Lost Place: Bis vor zehn Jahren war das von außen unspektakuläre Betriebsgebäude eine einzige riesige Maschine, in der Menschen nur eine Nebenrolle gespielt haben. Sortieranlagen und kilometerlange Förderbänder waren das Adernsystem unter der Stahlbetonhaut, die dreidimensionale Maschinenstruktur mit ihren spiralförmigen Paketrutschen zieht sich durch mehrere Geschoße. Raumgrößen und -höhen waren auf die Riesenmaschine abgestimmt, LKW-Auffahrtsrampen und Rangierräume im ersten Stock spannen ebenso riesige Räume auf wie die ebenerdige Gleishalle; dazwischen dann fast winzige Büroräume, das „Hauptstiegenhaus“ ist kleiner als das in manchem Gemeindebau. Im Keller, dem „Bunker“ dann nackte Betonhallen und enge Korridore: rohe industrielle Strukturen, die gleichzeitig Möglichkeitsräume öffnen, insgesamt etwa 100.000 Quadratmeter.
Dabei war das Verteilzentrum nur zweieinhalb Jahrzehnte lang in Betrieb; zu schnell hat sich das Geschäft der Post verändert, zu sehr hat die verkehrsgünstige Lage neben dem Bahnhof Begehrlichkeiten geweckt. Inzwischen stehen die Förderbänder still, die Paketverteilung wurde nach Allhaming auf die grüne Wiese verlegt, ein Bahnanschluss ist heute nicht mehr gefragt.
Als Zwischennutzung bespielt seit 2015 das Ars Electronica Festival einmal im Jahr das Areal, und für dieses einzigartige Zukunftslabor gibt es keinen passenderen Ort als die tote Maschinenwelt. Die Ars Electronica verwandelt die bizarre Poststation in eine Wunderkammer digitaler Kunst, in Österreich viel zu wenig wahrgenommen, dafür international umso bekannter – es ist das weltweit größte Festival für die Auseinandersetzung mit der digitalen Zukunft, für Kreativität, für Medienkunst.
Dass die „Post-City“ der Stadt verloren geht, banalen Wohntürmen weichen soll, ist ein dramatischer Verlust: Ich kenne europaweit keinen besseren Ausstellungsraum. Mit der Ars Electronica gehört Linz zur weltweiten Avantgarde; das erst wenige Jahrzehnte alte Gebäude abzureißen ist nicht nur kulturell ein Drama: Statt visionärer Kunst gestrige Stadtplanung, Wohnklötze zwischen einem Autobahnzubringer und dem Gleisfeld des Hauptbahnhofes – Investoren haben sowieso schon abgewunken. Als Wohnquartier ist das Areal fragwürdig; für ein Veranstaltungszentrum kombiniert mit universitärer Nutzung wäre die Lage ideal. Von einer „fortwährenden Zwischennutzung“ hätte die Stadt wohl mehr – auf Dauer.
In der Welt der Geheimnisvollen Städte
François Schuiten ist ein Star der belgisch-französischen Comicszene; Graphic Novels haben im französischsprachigen Raum eine ungleich höhere Wertschätzung als in Deutschland oder Österreich. Berühmt geworden ist er mit der Alben-Serie „Die geheimnisvollen Städte“, die er zusammen mit dem Autor Benoît Peeters geschaffen hat. Schuiten stammt aus einer Architektenfamilie; als Kind sah er Modelle und Zeichnungen, hat die katastrophale Entwicklung Brüssels seit den 1960er-Jahren miterlebt: „Brüsselisierung“ ist ein eigenes Architekturfachwort, das die rücksichtslose Opferung historischer Stadtstrukturen beschreibt.
Die Serie der „Cités Obscures“ erzählt dystopische Geschichten, in der die Städte einer mysteriösen Parallelwelt die Hauptrolle spielen: ähnlich der Realen, aber leicht verschoben, voller kunstgeschichtlicher Andeutungen, Verknüpfungen, versteckter Hinweise. Dabei berühren sich die Welten manchmal sogar, wie in der Pariser Metrostation „Arts et Métiers“, die Schuiten gestaltet hat; auch das Brüsseler Museum „Train World“, das Maison Autrique des Jugendstilarchitekten Victor Horta und zahlreiche andere Ausstellungen wurden von ihm entworfen und damit Teil des Vexierspiels.
Während in „Die Mauern von Samaris“ eine Stadt ganz im Stil von Victor Horta idealisiertes Spiegelbild Brüssels ist, behandelt das zentrale Werk „Brüsel“ die städtebauliche Katastrophe der belgischen Hauptstadt, die Zerstörung durch die Bauspekulation, den Größenwahn. „Brüssel hat die Verbindung zu sich selbst und seiner Geschichte verloren. Die Stadt ist wie mit einem Messer in Stücke geschnitten worden; das Zeichnen hilft da ein wenig beim Heilen. Als Zeichner mache ich Schneiderarbeit und versuche die Wunden zu vernähen“, sagt Schuiten im Interview.
Nirgendwo ist man den dunklen Städten näher als im Pariser Atelier von Schuiten. Es ist ein kleines, lichtes Haus in einem Arrondissement, in dem Paris noch ein wenig seiner Ursprünglichkeit bewahrt hat, und ein Schatzkästchen voller Artefakte: Ich kann ihren jeweiligen Platz im Universum der „Dunklen Städte“ präzise verorten. Es ist für mich ein aufregender Besuch; meine Interessen drehten sich immer um Architektur, Urbanismus und Soziologie, die „Dunklen Städte“ waren mir seit dem ersten Band seelenverwandt. Hier bin ich in der Herzkammer dieser Welt, und ein Phänomen tritt auf, das ich von meinen Architekturprojekten kenne: Gedachtes, Gezeichnetes klappt aus der Phantasie in den dreidimensionalen Raum, während Schuiten mit kraftvollen, ausladenden Gesten über Details der von ihm geschaffenen Welten und künftigen Projekten spricht. Zwischendurch greift er immer wieder zur Tuschefeder, während unseres Gesprächs entsteht ein Portrait von Captain Nemo, dem Held des letzten Bandes der „Cités Obscures“. Präzise und scheinbar mühelos setzt Schuiten im Stil alter Kupferstiche Strich neben Strich.
„Die Rückkehr von Kapitän Nemo“ wird möglicherweise der letzte Band der Serie und verknüpft Jules Vernes Buch „20.000 Meilen unter dem Meer“ mit dem „Dunklen Kontinent“. Neben Vernes Romanheld ist ein Hybridwesen aus Octopus und Nautilus Hauptdarsteller, und als riesige Metallskulptur ist es auch Teil eines Projekts für die Heimatstadt des Autors. In Amiens entsteht mit „Auf den Spuren von Jules Verne“ ein Pfad mit Erinnerungsorten und Kunstwerken, hier wird die Skulptur künftig auf einer Terrasse über der Stadt thronen. Ab Dezember wird sie sich aber für einige Monate vor dem Brüsseler Justizpalast aus dem Boden tauchen – auch dieses monströse historische Gebäude spielt eine wiederkehrende Hauptrolle in den „Geheimnisvollen Städten“. Auf seiner Reise verbindet der Octo-Nautilus von Kapitän Nemo damit reale und utopische Welten in einer Stadt, die sich mit ihrer Geschichte und ihren Möglichkeiten immer schwer getan hat.
Altaplana.be – eine umfangreiche Seite zu den Geheimnisvollen Städten
Atlantic12.com – Druckgrafik von François Schuiten
François Schuiten auf Facebook
Veröffentlichung der Bilder mit freundlicher Genehmigung von François Schuiten
Joachim Luetke
Ich kenne Joachim Luetke ja schon länger, allerdings nicht sehr gut; es begann mit den „Böse-Buben-Treffen“, bei denen sich ältere Herren, gerne langhaarig, zu launigen Gesprächen treffen und dabei grimmig dreinschauen, um wen netten kennen zu lernen. Jahre später flirtete Joachim auf Facebook ausreichend konsequent mit meiner Freundin, um ihr zu ermöglichen, uns frech bei ihm einzuladen. Und gut wars: Am Fuß der romantischen Semmering-Bahnstrecke, im Mikrokosmos der ehemaligen Papierfabrik Schlöglmühl, hat sich der Multimediakünstler eine morbid-elegante Wunderkammer geschaffen.
Joachim hat in Wien bei Hausner studiert, die Surrealisten waren erste Inspiration, H.R.Giger dann das Leitmotiv. Mir haben seine Skulpturen, leider unbezahlbar, immer am besten gefallen, sie wirken wie von Alien-Filmsets übriggeblieben und spielen mit Verfall, Tod oder politisch verwerflichen Symbolen: geknechtete und bandagierte Säuglinge mit Füßen aus Hühnerkrallen, verrostete Klonkrieger, skelettierte Generäle mit einem Durchlauferhitzer als Unterleib – archaisch und grandios. Der internationale Erfolg ließ sich nicht vermeiden, Stars von Marylin Manson abwärts baten um Plattencovers, die Suche nach den Brüchen des Menschseins bestimmten den Stil.
In früheren Interviews betonte Joachim die Doppelbödigkeit der Realitäten und Religionen; ich persönlich mag ja die Anekdoten, die doppelten Brüche, die wahren Skurrilitäten: Wenn die Protagonisten dunkel-mystischer Zwischenwelten in die banale Realität kippen, beispielsweise die immer weiß geschminkte, transgeschlechtliche Diva Anna-Varney Cantodea (Sopor Aeternus & The Ensemble of Shadows), zu Gast für Fotoproduktionen im Narrenturm, mit den Zeugen Jehovas an der Studiotür zusammentrifft – das Thema satanisch-queere Inklusion dürfte zu sperrig gewesen sein, und über die Bibel wollten sie dann auch nicht sprechen.
An einem warmen Spätsommertag sitzen wir im weichen Licht der historischen Veranda, trinken G’spritzten und knabbern am Mohnstrudel; ich fühle mich wohl, weil alles im Blickfeld einfach schön ist. Die Symbole und Reliquien sind stimmig arrangiert, die Sonne lässt einen Schädel aufglühen, die Spinnweben glitzern; „Nein, Putzfrau habe ich keine, die würden doch alle davonlaufen!“ – selbst haben mich Totenköpfe und Menschenknochen nie irritiert, es sind schlichte, natürliche Gegenstände wie Äste oder Hirschgeweihe und schon deswegen einfach ästhetisch.
„Wie stellst du dir deinen Tod vor“, fragt meine Freundin unvermittelt, wie es ihre Art ist, und inmitten der sorgsam angerichteten Schönheit in der Jugendstilvilla wird Joachim unspektakulär pragmatisch. „Im Liegestuhl im Garten, wenn die Sonne durch die Blätter blinkt“: All der inszenierte Grusel löst sich auf, Joachim zieht sich die Gummistiefel an, und wir gehen hinaus in die samtige Luft des späten Nachmittags. Tatsächlich war die in der Semmeringlandschaft eingebettete Villa in den letzten 120 Jahren Schauplatz einiger echter Tragödien; nun, als Schatulle für Versatzstücke dunkler Welten, erlebt sie ihre vielleicht friedlichste Epoche.
Links:
Sopor Aeternus
Joachim Luetke (leider veraltet)
Joachim Luetke auf Facebook
Montmartre
Die jungen Mädchen flattern die Stiegen hinunter und duften nach Maiglöckchen; die honorigen Damen sitzen in den Restaurants und riechen vornehm. Die Häuser ragen wie Zähne in den Nachthimmel und tragen Goldplomben aus unbezahlbaren Atelierwohnungen. Die Blüten in den geheimen Gärten impfen die Luft so wie die Melodie, die aus dem Kellertheater sickert, und auf der Straße streiten zwei Katzen, bis der Hund dazwischengeht; ein Mopedfahrer fräst eine tiefe Rille in den Sommerabend. Im Café des Deux Moulins spiegelt sich das Neonlicht im Kupfer des Tresens, und sogar die Japanerinnen umflort ein Hauch von Amelie – am Montmartre findet jeder sein Paris: Stille Nächte im Klischee, und trotzdem bezaubernd.
Paris
Paris: das sind die Schwalben in den Sommergassen, das ist Klaviermusik straßenseitig und Geigenspiel vom Hof, das sind weißblaue Emailschilder, das ist Baguette und Camembert und billiger Rotwein im Parc Montsouris; Paris ist ein flüchtiges fremdes Lächeln aus dem Nebenwaggon der Metro beim Halt in der Station, ist das Plätschern der Bäche, die am Morgen die Straßenränder fluten, Paris sind alte Bücher und neue Geschichten. Paris sind Füße, die nicht so viel gehen können wie die Augen sehen wollen. Paris ist weit an der Seine und eng unterm Dach am Montmartre:
Paris ist das Leben, Paris ist die Liebe, Paris ist die ganze Welt.
Unter den Straßen der Lichterstadt
Paris war der erste Ort, der mir neben Wien zu einer Art Heimat wurde: Mit 16 wurde ich dorthin geschickt, um Französisch zu lernen. Es war gleichzeitig der erste Ort, an dem ich wirklich frei war, abgekoppelt von Zwängen und Familienstrukturen, die mich in Wien beschränkten.
Es war wahrscheinlich kein Zufall, dass meine Suche nach besonderen Plätzen dann gerade in Paris begann: Alle unsere Geschichten, die wir mit uns tragen, sind untrennbar verflochten mit den Orten, an denen wie sie erleben. Bis heute ist diese Stadt mein Sehnsuchtsort, meine zweite Heimat, meine heimliche Geliebte, während ich mit Wien quasi verheiratet bin.
Meine Suche nach „ Lost Places “ hat sich in den letzten Jahren wie von selbst nach Paris verlagert; mir scheint, dass Wien inzwischen nicht mehr ausreichend viele Geheimnisse bietet. Die „ Lichterstadt “ ist dagegen auch ein Ort der Schatten; unter der Metropole warten unglaubliche Plätze darauf, legal oder illegal erforscht zu werden: die kafkaesken Gänge und schwarzen Schächte der Metro, die den Pulsschlag der Stadt bestimmt, oder die tief unter den Straßen liegenden Katakomben und Steinbrüche, aus denen vor Jahrhunderten das Baumaterial für die Häuser darüber gebrochen wurde.
Wieder einmal finde ich mich auf „Forschungsmission“ , mit einer kleinen Gruppe von „Cataphiles“, Freunden der Unterwelt; eine unauffällige Tür in einer abgelegenen Metrostation, der irgendwie organisierte richtige Schlüssel – und wir streifen durch stillgelegte Metrotunnels, durch ehemalige Kraftzentralen, durch vergessene Labyrinthe aufgelassener Haltestellen. Jahrzehntealte Werbung hat sich an den Wänden erhalten, und vor uns führt ein dunkler Schacht ins Ungewisse.
Das Netz aus Tunnels ist das Wurzelwerk der Stadt, und die Lust, es zu erforschen, ähnelt der Suche nach den eigenen Wurzeln. Und so wird die Suche nach den magischen Orten, den eigenartigen Anekdoten zum Spiegelbild der Suche nach der eigenen Geschichte. Ein uralter Metrowagen, außen mit Sprayfarbe verunstaltet: Mich ziehen die Sitze, Wände und Böden an, die seit Jahrzehnten niemand mehr berührt hat. Diese Type verkehrte noch, als ich zum ersten Mal hier war, vielleicht bin ich selbst vor vierzig Jahren hier gesessen. Diese Tunnels mit ihren Verzweigungen und rätselhaften Gleisen, die sich irgendwo im Dunkel verlieren, machen mich neugierig auf die Abenteuer, die vor mir liegen. Ich folge den Schienen von den abgestellten Wagen zur Hauptlinie, Züge donnern an mir vorbei.
Für den futuristischen Maler Gino Severini war die Metro „ein illuminierter Körper, der durch einen abwechselnd dunklen und erleuchteten Tunnel fließt“ ; Bei all der Suche nach vergangenen, verlorenen Orten denke ich aber auch an die Entdeckungen, die noch vor mir liegen und damit an einen Satz des russischen Fotografen Alexander Rodtschenko: „Die Zukunft ist unser einziges Ziel“.
Fotos: https://www.viennaslide.com/features/Paris-Metro/
Für das Feuilleton der Wiener Tageszeitung Die Presse habe ich einen etwas ausführlicheren Artikel dazu verfasst: http://www.mauerspiel.at/texte/2024-07-20-Presse-Spectrum-Metro.pdf
Meine liebe Freundin Céline hat auf ihrem Blog über das Verschwinden des Métrotickets geschrieben: https://feelingparis.net/adieu-kleines-metroticket/
Das Sommermärchen in der Corneliusgasse
Die Corneliusgasse ist eine völlig nebensächliche kurze Gasse mitten in Wien, etwas ansteigend, voll mit geparkten Autos. Gerade mal die Stiege am Ende der Sackgasse, sie führt zur zwei Stockwerke höher liegenden Straße, ist vielleicht erwähnenswert, aber nichtmal sie hat was Besonderes – eine kahle Betontreppe, Romantik sieht anders aus. Das änderte sich an einem Weekend im August schlagartig: Da wurde die Gasse plötzlich Sehnsuchtsort tausender junger Mädchen, wurde zum Treffpunkt – und die überraschten Anrainer wussten nicht, wie ihnen geschieht.
Im August 2024 fluten fast 200.000 junge Menschen die Stadt, zu 95% weiblich – die „Swifties“ kamen, Fans von Taylor Swift, dem derzeit erfolgreichsten Popstar weltweit, älteren Musikliebhabern unbekannt. Und da ist dann noch ein verpeilter Jugendlicher, 19 Jahre alt, seine Stars die anonymen Fusselbärte des bizarren „Islamischen Staats“. Er und ein Kumpel wurden zwar erfolgreich verhaftet, trotzdem war die Exekutive ausreichend alarmiert, das Großereignis abzusagen; tragisch, dass sich die Behörden außerstande sahen, eine normale Stadionveranstaltung sicher durchzuführen. Es wurde viel geweint in den Stunden nach dem Schock, die Swifties, erst bitter enttäuscht, waren dann aber wild entschlossen, das Beste draus zu machen. Und die Corneliusgasse wurde zur Ersatzlocation: Ein Song des Stars dreht sich um ihren früheren Wohnort Cornelia Street, und nichtmal die grundsätzlich grantigen Wiener Bewohner der grauen Nebengasse konnten sich der Lebensfreude der aus der ganzen Welt angereisten Mädels entziehen.
Ein Glitzern liegt über der Stadt
200.000 junge Menschen – auch in einer Großstadt wie Wien ist deren Anwesenheit nicht zu übersehen. Und die Stadt hat auf die Absage fantastisch reagiert: Freier Eintritt in etlichen Museen oder Schwimmbädern, die Clubs haben sich dem angeschlossen, haben die Öffnungszeiten ans Alter der Swifties angepasst und vieles mehr. Auf der Mariahilferstraße, am Stephansplatz, in der Corneliusgasse – überall Pailletten zu sehen, die Songs zu hören, Fischerchöre nichts dagegen! Freundschaftsbändchen an jedem Handgelenk, auch bei den gut gelaunten Polizisten: Achtsamkeit statt Achter. Plötzlich werden auch im Gesicht des grauhaarigen Kommandanten die Lachfalten sichtbar, plötzlich ist auch er mit Perlenarmbändern behängt, während seine Untergebenen ihr Schulenglisch hervorholen, um vor den Amerikanerinnen zu brillieren. Und die Anrainer feiern aus den Fenstern mit, reichen Wasserbecher raus, aus dem zweiten Stock flattern ausgedruckte Zettel – „Cornelia Street“ steht auf dem rasch gestalteten blauen Wiener Straßenschild aus Papier.
Das ist die eigentliche Überraschung, wenn man in die Corneliuscrowd, in das Wiener Sommermärchen eintaucht: die ansteckende unerschütterliche Lebensfreude. Es sind junge und sehr junge Mädchen, die hier ihre Hymnen singen, sie handeln von Liebe, von Trennungen, vom erwachsen werden, von Empowerment; es sind Gesichter, die sich gerade auf die Reise vom Kind- zum Frausein gemacht haben, mit Proviant aus stärkenden Liedern: Heartbreakers gonna break, and the fakers gonna fake, Baby, I′m just gonna shake it off…
Im hereinbrechenden Abend glitzern Handylämpchen über der Menge, und hochgehaltene Hände formen Herzen – nun wird sogar die Corneliusstiege romantisch wie die Treppen des Montmartre. Dann wird es langsam stiller; um 23.00 ist Nachtruhe, und langsam löst sich die Party auf. Am nächsten Tag, Sonntag, nur noch Spuren, eine kleines Grüppchen steht um den glasperlenverzierten Baum und singt, diesmal klingt es wie eine stille Andacht. Kreideaufschriften am Boden: We can do it with a broken heart, steht da, Fearless, oder Fuck the Patriarchy – tatsächlich haben drei junge Männer, denen die Kraft westlicher Frauen unerträglich war, zu vielen den Spaß verdorben. Sich von solchen Leuten nicht einschüchtern zu lassen – das muss unsere Demokratie von den jungen Swifties lernen, die der Stadt gezeigt haben, wie man Lebensfreude lebt.
Im Kaffeehaus
Die Wiener Kaffeehäuser sind ja so eine Sache, die Stadt zelebriert dort ihr kollektives Stockholm-Syndrom – man hasst die unfreundlichen Kellner und den schlechten Kaffee, Änderungen sind aber nicht erwünscht. Das Weidinger ist da untypisch, aber trotzdem echter als manches berühmte Etablissement, der Besitzer freundlich, der Kaffee in Ordnung. Es liegt aber so weit ab der üblichen Pfade, dass es sich erst gar nicht um Klischees bemüht: in Ottakring und am Gürtel, Wiener Randschaft seit immer. Im Weidinger ist es fast lautlos an diesem Sommerabend, angekettet warten die Billard-Queues auf ihre Besitzer, auf der Kegelbahn im Keller poltert keine Kugel. Ein schweigsamer Philosoph sinniert vor einem großen Bier, um das Krügerl stehen fünf kleine Schäpse als Nachbrenner für Nachtgedanken. Eine junge Frau wartet auf ihren heimlichen Geliebten, und draußen fällt die große Straße langsam in die Nacht. Der Windfang hält mit seiner Glastür die Gegenwart in Schach, still gerinnt die Zeit.
Ein anderer Tag, ein anderer Ort: Im Café Heumarkt treffe ich Selma, eine Autorin, ich kannte sie bisher nur schriftlich. Das Heumarkt ist trotz guter Lage die Antithese jedes Touristencafes, die Eigentümer – Selma nennt sie liebevoll „ihre beiden Eulenvögel“ – irritiert bei jedem neuen Besucher, Selmas stammgastliche Hilfe daher notwendig, um das spröde Nest fotografieren zu dürfen. Ich stelle fest: In randschaftlichen Lokalen bleibt neben der Uhr auch der Zigarettenautomat stehen, auch hier könnte man mittels Schillingeinwurf Hobby, Falk oder Dames erwerben, die technischen Voraussetzungen sind gegeben. Überhaupt, die Technik. „Hör mal“,sagt Selma, als sich die Kühlvitrine einschaltet: Ein Klirren läuft als Auftakt durch die Tellerchen, während der Kompressor aufknurrt, dann dröhnt der ganze Apparat, um nach einem letzten Erbeben wieder zur Ruhe zu kommen, für eine kurze Viertelstunde. Es ist die einzige akustische Untermalung in dem sonst stillen Saal.
Selma ist eine große, starke Frau mit einem zarten, romantischen Herz. Sie genießt das seltsame Café so wie ich unser langes Gespräch. Sie erzählt von der seinerzeitigen Reparatur ihrer Lieblingsgeldbörse bei Herrn Jentsch, einem längst verstorbenen Lederspezialist, und ich fühle wieder die ewige Gegenwart, die sich an manchen Wiener Orten verfangen hat. „Trotzdem braucht es manchmal neue Rituale“, sagt Selma zu mir, und zu einem ihrer Eulenvögel, als er ihrem Hund ein Schinkenstück zuwirft, dann ganz leise: „lassen Sie mich in Zukunft bei der Verabschiedung einfach sagen: … ich liebe Sie!“ Der alte Herr wird verlegen, und in diesem Moment bin auch ich ein wenig verliebt: in Selma, in das alte Café, in alle seltsamen alten Eulenvögel dieser seltsamen alten Stadt.