„Wer schreibt, der bleibt“, artikulierte der nachhaltig erfrischte Literatendarsteller im Cafe Kafka bemüht, bevor sein Kopf schwer auf den Marmortisch aufschlug.
„Kann schon sein – aber wir haben jetzt Sperrstund'“.
Die Nacht wurde unbequem, aber am nächsten Tag hatte er erstmals etwas zu erzählen.
Wien
Ewige Gegenwart
„Ich bin hier wie ein Soldat, der auf eine Ablöse wartet, die nie kommt“: die Stimme von Frau Jentsch ist fast feenhaft zart, wenn sie im Film „Aus der Zeit“ über ihre Arbeit spricht. Sie hat unter einem Patriarchen gedient, Herr Jentsch war ein kraftvoller Mann, hat über seine Weltreisen Bücher geschrieben. Seine liebsten Koffer waren aber leer: sie standen in seinem Lederwarengeschäft in der Kaiserstraße zum Verkauf, das seit 1874 existiert.
Harald Friedl hat das Geschäft 2006 portraitiert, in den langen, ruhigen Einstellungen entfaltet sich die kleine Welt, die Ersatz für die große wurde. „Wenn ich hier bin, habe ich das Gefühl, das Geschäft hat nie begonnen und hört nie auf – man arbeitet hier in Muße, man ist in der Hand der Zeit, und die hält irgendwie den Kurs. Das Geschäft selber ist die Zeit, sie ist hier anders, stabiler als an anderen Orten.“
Tatsächlich konnte Frau Jentsch vor einigen Jahren abrüsten; auch wenn das Geschäft „nie aufhört“, verließ Herr Jentsch die Kommandobrücke, und sein Sohn übernahm. Benedikt Jentsch ist hauptberuflich Architekt, seine Arbeit ist nun das Fundament für die Fortsetzung der ewigen Gegenwart; zusammen mit seiner Frau, die während seines Broterwerbs die Stellung hält ist (das Geschäft trägt sich derzeit nicht selbst), will er weiterhin versuchen, diese Lücke in der Zeit geöffnet zu halten.
Während ich in der Stille der Werkstatt fotografiere, denke ich an das Schild des verschwundenen Treibriemenherstellers im Raimundhof, das mich immer fasziniert hat: „In wenigen Minuten endlos“ – ich konnte es damals nicht retten, aber hier, in dieser Kapelle für die Ewigkeit, sollte es an der Wand hängen, statt dem Kruzifix.
Das Sommermärchen in der Corneliusgasse
Die Corneliusgasse ist eine völlig nebensächliche kurze Gasse mitten in Wien, etwas ansteigend, voll mit geparkten Autos. Gerade mal die Stiege am Ende der Sackgasse, sie führt zur zwei Stockwerke höher liegenden Straße, ist vielleicht erwähnenswert, aber nichtmal sie hat was Besonderes – eine kahle Betontreppe, Romantik sieht anders aus. Das änderte sich an einem Weekend im August schlagartig: Da wurde die Gasse plötzlich Sehnsuchtsort tausender junger Mädchen, wurde zum Treffpunkt – und die überraschten Anrainer wussten nicht, wie ihnen geschieht.
Im August 2024 fluten fast 200.000 junge Menschen die Stadt, zu 95% weiblich – die „Swifties“ kamen, Fans von Taylor Swift, dem derzeit erfolgreichsten Popstar weltweit, älteren Musikliebhabern unbekannt. Und da ist dann noch ein verpeilter Jugendlicher, 19 Jahre alt, seine Stars die anonymen Fusselbärte des bizarren „Islamischen Staats“. Er und ein Kumpel wurden zwar erfolgreich verhaftet, trotzdem war die Exekutive ausreichend alarmiert, das Großereignis abzusagen; tragisch, dass sich die Behörden außerstande sahen, eine normale Stadionveranstaltung sicher durchzuführen. Es wurde viel geweint in den Stunden nach dem Schock, die Swifties, erst bitter enttäuscht, waren dann aber wild entschlossen, das Beste draus zu machen. Und die Corneliusgasse wurde zur Ersatzlocation: Ein Song des Stars dreht sich um ihren früheren Wohnort Cornelia Street, und nichtmal die grundsätzlich grantigen Wiener Bewohner der grauen Nebengasse konnten sich der Lebensfreude der aus der ganzen Welt angereisten Mädels entziehen.
Ein Glitzern liegt über der Stadt
200.000 junge Menschen – auch in einer Großstadt wie Wien ist deren Anwesenheit nicht zu übersehen. Und die Stadt hat auf die Absage fantastisch reagiert: Freier Eintritt in etlichen Museen oder Schwimmbädern, die Clubs haben sich dem angeschlossen, haben die Öffnungszeiten ans Alter der Swifties angepasst und vieles mehr. Auf der Mariahilferstraße, am Stephansplatz, in der Corneliusgasse – überall Pailletten zu sehen, die Songs zu hören, Fischerchöre nichts dagegen! Freundschaftsbändchen an jedem Handgelenk, auch bei den gut gelaunten Polizisten: Achtsamkeit statt Achter. Plötzlich werden auch im Gesicht des grauhaarigen Kommandanten die Lachfalten sichtbar, plötzlich ist auch er mit Perlenarmbändern behängt, während seine Untergebenen ihr Schulenglisch hervorholen, um vor den Amerikanerinnen zu brillieren. Und die Anrainer feiern aus den Fenstern mit, reichen Wasserbecher raus, aus dem zweiten Stock flattern ausgedruckte Zettel – „Cornelia Street“ steht auf dem rasch gestalteten blauen Wiener Straßenschild aus Papier.
Das ist die eigentliche Überraschung, wenn man in die Corneliuscrowd, in das Wiener Sommermärchen eintaucht: die ansteckende unerschütterliche Lebensfreude. Es sind junge und sehr junge Mädchen, die hier ihre Hymnen singen, sie handeln von Liebe, von Trennungen, vom erwachsen werden, von Empowerment; es sind Gesichter, die sich gerade auf die Reise vom Kind- zum Frausein gemacht haben, mit Proviant aus stärkenden Liedern: Heartbreakers gonna break, and the fakers gonna fake, Baby, I′m just gonna shake it off…
Im hereinbrechenden Abend glitzern Handylämpchen über der Menge, und hochgehaltene Hände formen Herzen – nun wird sogar die Corneliusstiege romantisch wie die Treppen des Montmartre. Dann wird es langsam stiller; um 23.00 ist Nachtruhe, und langsam löst sich die Party auf. Am nächsten Tag, Sonntag, nur noch Spuren, eine kleines Grüppchen steht um den glasperlenverzierten Baum und singt, diesmal klingt es wie eine stille Andacht. Kreideaufschriften am Boden: We can do it with a broken heart, steht da, Fearless, oder Fuck the Patriarchy – tatsächlich haben drei junge Männer, denen die Kraft westlicher Frauen unerträglich war, zu vielen den Spaß verdorben. Sich von solchen Leuten nicht einschüchtern zu lassen – das muss unsere Demokratie von den jungen Swifties lernen, die der Stadt gezeigt haben, wie man Lebensfreude lebt.
Im Kaffeehaus
Die Wiener Kaffeehäuser sind ja so eine Sache, die Stadt zelebriert dort ihr kollektives Stockholm-Syndrom – man hasst die unfreundlichen Kellner und den schlechten Kaffee, Änderungen sind aber nicht erwünscht. Das Weidinger ist da untypisch, aber trotzdem echter als manches berühmte Etablissement, der Besitzer freundlich, der Kaffee in Ordnung. Es liegt aber so weit ab der üblichen Pfade, dass es sich erst gar nicht um Klischees bemüht: in Ottakring und am Gürtel, Wiener Randschaft seit immer. Im Weidinger ist es fast lautlos an diesem Sommerabend, angekettet warten die Billard-Queues auf ihre Besitzer, auf der Kegelbahn im Keller poltert keine Kugel. Ein schweigsamer Philosoph sinniert vor einem großen Bier, um das Krügerl stehen fünf kleine Schäpse als Nachbrenner für Nachtgedanken. Eine junge Frau wartet auf ihren heimlichen Geliebten, und draußen fällt die große Straße langsam in die Nacht. Der Windfang hält mit seiner Glastür die Gegenwart in Schach, still gerinnt die Zeit.
Ein anderer Tag, ein anderer Ort: Im Café Heumarkt treffe ich Selma, eine Autorin, ich kannte sie bisher nur schriftlich. Das Heumarkt ist trotz guter Lage die Antithese jedes Touristencafes, die Eigentümer – Selma nennt sie liebevoll „ihre beiden Eulenvögel“ – irritiert bei jedem neuen Besucher, Selmas stammgastliche Hilfe daher notwendig, um das spröde Nest fotografieren zu dürfen. Ich stelle fest: In randschaftlichen Lokalen bleibt neben der Uhr auch der Zigarettenautomat stehen, auch hier könnte man mittels Schillingeinwurf Hobby, Falk oder Dames erwerben, die technischen Voraussetzungen sind gegeben. Überhaupt, die Technik. „Hör mal“,sagt Selma, als sich die Kühlvitrine einschaltet: Ein Klirren läuft als Auftakt durch die Tellerchen, während der Kompressor aufknurrt, dann dröhnt der ganze Apparat, um nach einem letzten Erbeben wieder zur Ruhe zu kommen, für eine kurze Viertelstunde. Es ist die einzige akustische Untermalung in dem sonst stillen Saal.
Selma ist eine große, starke Frau mit einem zarten, romantischen Herz. Sie genießt das seltsame Café so wie ich unser langes Gespräch. Sie erzählt von der seinerzeitigen Reparatur ihrer Lieblingsgeldbörse bei Herrn Jentsch, einem längst verstorbenen Lederspezialist, und ich fühle wieder die ewige Gegenwart, die sich an manchen Wiener Orten verfangen hat. „Trotzdem braucht es manchmal neue Rituale“, sagt Selma zu mir, und zu einem ihrer Eulenvögel, als er ihrem Hund ein Schinkenstück zuwirft, dann ganz leise: „lassen Sie mich in Zukunft bei der Verabschiedung einfach sagen: … ich liebe Sie!“ Der alte Herr wird verlegen, und in diesem Moment bin auch ich ein wenig verliebt: in Selma, in das alte Café, in alle seltsamen alten Eulenvögel dieser seltsamen alten Stadt.
Wiens letztes Pornokino
Praktisch völlig aus dem Stadtbild verschwunden sind die kleinen Bezirkskinos. Oft waren es „Schlauchkinos“, mit wenigen Sitzplätzen in umso mehr Reihen. Das bekannteste und wohl auch klassische von ihnen war das Bellariakino, bekannt für seine Spezialisierung auf die große Zeit der österreichischen Filmproduktion: Paul Hörbiger, Hans Moser, unvergessene Stars in unvergessenen Produktionen. Die wenigen Kinos, die die Multiplexwelle überlebt haben, sind heute Programmkinos und wenden sich an anspruchsvolles Publikum: Admiral, Filmcasino, Metro. Die meisten Säle wurden zu Supermärkten, vereinzelt lassen sich aber noch Spuren aus dieser versunkenen Welt finden. Das älteste Kino Wiens ist gleichzeitig das letztes Sexkino der Stadt.
Mario Adlassnig liebt das Kino – und so widmet er sich neben seiner Firma für Bewässerungstechnik einem speziellen Hobby: dem letzten Sexkino Wiens. Für uns als Jugendliche waren diese Ohne-Pause-Kinos die erste Bildungseinrichtung für Grundlagen des Zwischenmenschlichen, und wir schlichen tagelang um den Block, bevor wir endlich in eine Kinokarte fürs „Rondell“ investierten. Das damalige Ambiente bestand aus einer strengen älteren Dame an der Kassa und im Saal verstreuten Herren im Trenchcoat, die ihrer einsamen Beschäftigung nachgingen. So manch siechendes Kino versuchte sich damals in Erotik, bevor das Licht auf der silbernen Leinwand endgültig verglühte; „Währinger Gürtel“, „Weltspiegel“, „Schäfferkino“ waren für neugierige 16jährige zuverlässige Garanten für rote Ohren. Es waren allerdings auch dauerhaft prägende Eindrücke, wenn im Rondell Damen mit jahrzehntelanger Mannequin-Erfahrung die gerade aktuelle Reizwäschekollektion präsentierten oder während der Vorstellung die Billeteurin im weißen Arbeitsmantel durch den Saal ging, aus der hoch erhobenen Spraydose einen Lysoform-Kondensstreifen hinterlassend. All das gibt es heute nicht mehr, das Fortunakino ist blitzsauber, die Kundschaft besteht aus Pärchen auf der Suche nach Mitspielern oder einfach dem kleinen Kick im Alltagsleben. Auch rechtlich ist alles wasserdicht; die Bordellkonzession ermöglicht „echte Action“ im Separee oder auf den großen Couches, die beliebte letzte Reihe im Kino ist also nicht nur fußfrei, sondern auch schrittoffen. Auch wenn Herr Adlassnig zum Kino gekommen ist wie die Jungfrau zum Kind – im Zentrum seines Begehrens steht echte Kinogeschichte. Die Pornos kommen vom Beamer, aber im Vorführraum steht ein riesiger 35mm-Projektor, und er hofft auf Sponsoren, die das wunderbare Ungetüm wieder zum Leben erwecken. Schon jetzt zeigt er einmal im Monat Filmklassiker, und vielleicht kommt irgendwann der Moment, in dem sich der rote Vorhang öffnet und von weit hinten, von den kleinen Fensterchen in der Rückwand, das Flimmerlicht Hollywoods Traumwelten neu erstrahlen lässt…
Das Haus an der Straße
„Hier war mal der Schrebergarten meiner Eltern!“, schreit mir mein Kumpel von hinten ins Ohr, während ich mein Motorrad über die berüchtigste Autobahn der Stadt treibe. Gürtel, St.Marx, Simmering, Kaisermühlen – von den allseits geläufigen Stadtvierteln bleiben nur blaue Schilder, einige anonyme Neubauten lugen über die Schallschutzmauer. Szenenwechsel. Einer der unzähligen banalen Gemeindebauten der 1950er; es riecht nach Kohl und Curry und Essen aus aller Herren Länder, im Stiegenhaus ein Rollator, ein Kinderfahrrad, vor mancher Wohnungstüre Schuhe. Das Haus ist abgewohnt, und doch ist etwas anders: Die Geräuschkulisse. Die Tangente ist allgegenwärtig, je nach Ausrichtung der Fenster in unterschiedlicher Präsenz.
Wohnen am Ground Zero des Stadtverkehrs
Samstag Nachmittag, fast alle sind zu Hause, nicht alle antworten auf mein Klopfen. Endlich öffnet ein massiger Mann und zeigt mir seine Aussicht: „Jo wos soll mochan, mussen auch olle orbaiten, konn ma nix sogn, ich wor auch immer auf Baustelle, oba mussen alle foahrn in Orbait, nix sich aufregen, mocht ned bessa, is haaß, oba um hundert Oiro billiga ols hinten, und waastas eh, is vü Göd, hundert Oiro jedes Monat“.
Auch in den anderen Wohnungen sind es Menschen, die in ihrem harten Arbeitsleben keine Zeit hatten für die Sprache, es sind die Kinder, die übersetzen. Die einzelnen Lebensgeschichten bleiben daher diffus, wobei die Schicksale – irgendwann nach Österreich, schlecht bezahlter Job zum Überleben, endlich eine Wohnung, die Kinder sollen es besser haben – sowieso überschaubar sind. Hauptthema bei jedem Besuch ist aber das unentrinnbare Brachialorchster des Verkehrs, mit dem man sich irgendwie abfindet – und jedes Stockwerk hat seine eigenen Arrangements, je nach Höhe und Bauart der Lärmschutzwand.
Auf Straßenniveau dann der Ground Zero der Hässlichkeit, mit Behübschungsversuchen hat man sich nicht aufgehalten, der Raum unter dem riesigen Betonbrett ist selbstreferenziell: Autos parken hier, und Straßenbaumaterial wird gelagert. Von oben beständiges dumpfes Rauschen, akzentuiert durch metallische Schläge, wenn ein LKW über eine Dehnfuge fährt. Am Boden Spuren prekärer Lebenskonzepte: Schnapsfläschchen im Miniaturformat von der Billa-Kassa, Bierdosen, Kaffee-Pappbecher. Zentrum des Viertels ist die Straßenbahnstation, sie ist nagelneu, aber gebaut ohne jeden Willen zur Gestaltung: Hier ist alles hässlich, und trotzdem passt nichts zusammen. Bei einer Klientele ist die Lage trotzdem begehrt: Bei den Firmen, die ihre Logos in riesigen Leuchtbuchstaben auf die Dächer der Häuser schrauben, sie liefern damit die Lichtorgel für die Dauerbeschallung der Anwohner.
Fotos: https://www.viennaslide.com/features/Wien-SO-Tangente/
Die Reste eines Lebens
Wien, Stephansplatz. Eine Altbauwohnung mit etwa 200 Quadratmetern, seit Jahrzehnten nicht mehr renoviert; eine Zeitkapsel mit den Resten eines langen Lebens. Über den Schichten vergangener Erinnerungen liegen Fragmente einer kurzen Theaterproduktion: um Kafka ging es, um den „Prozess“. Nichts hätte besser gepasst, hier, in der Wohnung eines ehemaligen Rechtsanwalts und seiner Frau. Andenken an Jahrzehnte, persönliche Dokumente, Tagebücher mit Dingen, die man niederschreiben musste, und die doch nach 30 Jahren belanglos sind. In den Rudimenten zu wühlen fühlt sich obszön an: Was vom Leben bleibt sind staubige Notizbücher, zerfallende Urkunden, sentimentale Briefe an die Kinder, so persönlich wie banal. Die Inhalte des aufbewahrten Schriftguts haben sich über die Jahre sowieso geändert: Von Rechtswissenschaft und Medizin zu später ebenso sorgsam gesammelten Strickanleitungen aus Burda-Heften. Die Handlungsfäden eines 90-Jährigen Lebens sind gemeinsam mit denen aus Kafkas Stücken auf Garnspulen gewickelt, und sie werden nie wieder entwirrt.
Am Mittwoch kommen kräftige Jungs, und der Container.
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