Magie der Industrie

Magie der Industrie

Neben dem Bahnhof von Pottendorf war eine Fabrik aus rotem Backstein nicht zu übersehen, klassische Architektur des 19. Jahrhunderts. Die Industrie hat sich damals das Land zu Eigen gemacht; ein Werkkanal wurde von der Leitha abgezweigt, die Bahnlinie als Teil der ganz Europa umspannenden Verteilungsmaschinerie trägt den Namen der Gemeinde. Vom anfangs symmetrischen Gebäude fehlte bereits ein Teil, der Eindruck war aber immer noch gewaltig; später wurde der Torso ausgehöhlt und zum Wohnbau. Noch grandioser als die Fassaden waren die Innenräume, die großen Fenster und hohen Hallen bildeten eine „Kathedrale der Arbeit“. Aus seinem etwas erhöhten Büro blickte der Vorarbeiter über das Stockwerk; welche Geschichten, Dramen, Schicksale haben sich hier entschieden, wie schmerzhaft waren die Abhängigkeitsverhältnisse zwischen den Arbeitern und den strengen Vorgesetzten? Bei meinem Besuch waren Respekt, Fleiß, Wut und Schmerz spurlos aus den Werkhallen verschwunden, der Staub von Jahrzehnten bedeckte alte Schreibtische ebenso wie alle anderen Spuren menschlicher Anwesenheit.

Ähnlich empfand ich auch in Teesdorf, die Spinnerei entdeckte ich zufällig. Die Fabrik ist etwas jünger als jene in Pottendorf, die riesigen leeren Hallen um nichts weniger eindrucksvoll. Vom Wasserturm ging der Blick weit über die banalen Einfamilienhäuser – heute pendelt man nach Wien, das Industrieviertel wirkt so verschlafen wie die historischen Bauten. In die Hallen, früher Lebensmittelpunkt für tausende Arbeiter, ausgefüllt vom Maschinenlärm ebenso wie von den Gespinsten menschlicher Beziehungen, verirren sich nur noch Sprayer und Tauben.

Den Bildband, den ich 2019 mit meinen Fotoserien von „Lost Places“ füllen konnte, nannte ich Kenopsia: von Kenos – Altgriechisch: leer, frei und Opsis – Altgriechisch: Ansicht, Aussehen. Das Wort ist Urban Slang für die unheimliche Atmosphäre eines Ortes, der einmal von Menschen bevölkert war, aber jetzt verlassen und völlig still ist – eine leere Fabrikshalle, ein vergessenes Schloss, eine verlassene Stadt. Die Menschen fehlen an diesen Orten, sind nur Erinnerung, ferne Schatten; die verfallenden Gebäude zeigen sich im Untergang noch einmal in ihrer wahren Schönheit: wie eine alternde Ballerina, die sich von der Bühne zurückgezogen hat, aber ein letztes Mal ihre früheren Pirouetten in ihrer ganzen Grandezza zeigt.

http://www.mauerspiel.at/kenopsia

Wien, Gasometer vor Umbau

Schön Leer

Ein Sommertag, ich bin in den späten 1990ern mit dem Rad unterwegs, komme an den Gasometern in Wien Simmering vorbei. Die Gegend ist ein seltsames Niemandsland am Rand der Stadt: Industrieruinen, Gärtnereien, ein einsames Wirtshaus, Bahngleise, ein alter Gemeindebau. Die Umwidmung steht bevor, bald werden Wohnbauten das Bild bestimmen. Die alten Gasometer sind ikonische Sehenswürdigkeiten im Osten der Stadt, sie sollen mit Wohnbauten gefüllt werden, noch ist davon nichts zu sehen. Zu meiner großen Überraschung sehe ich ein Tor offen stehen. Ungehindert betrete ich den riesigen Hohlraum – und bin überwältigt.

Ich war zwar schon früher bei Veranstaltungen hier, aber noch nie war ich in so einem großen Raum völlig alleine. Die Dimension ist gar nicht recht fassbar, es gibt keine vertrauten Objekte, an denen man sie messen könnte. Fast ehrfürchtig stehe ich in der Mitte des gewölbten Bodens. Eine unendlich lange Treppe führt in den Dachbereich, ich erkenne, dass diese Gelegenheit nie wieder kommt. Ewig steige ich nach oben, fühle mich wie eine Fliege an der Zimmerwand. Der Umgang unter der Dachkuppel ist eine schmale Eisenkonstruktion, das Geländer ein zarter Handlauf. Eine Leiter führt darüber hinweg zu einer Dachluke, und ich überwinde meine Höhenangst für einen Moment, steige nach draußen – und habe den Eindruck, auf einem Zwergplaneten zu stehen, so mächtig wölbt sich die Kuppel vor mir.

In den Kellern der Pariser Oper

In den Kellern der Pariser Oper

Mitte der 1980er-Jahre – in den Wiener Musicalhäusern gab man „Das Phantom der Oper“ – hatte ich die Idee, den Originalschauplatz der Story zu fotografieren. Die Direktion der Pariser Oper reagierte verhalten. Mein euphorisch vorgetragener Plan, nicht nur in die Keller vordringen, sondern sie auch noch mit Fackeln beleuchten zu wollen, war dann aber ausreichend absurd, mich zu empfangen und mir den Generalschlüssel zu überlassen.

An diesem Tag führte mich mein Weg von den Schnürböden unter dem Dach bis in die tiefsten Keller. Und obwohl der unterirdische See des Phantoms nichts anderes war als ein Löschwasserbecken: Die Herzkammer tief unter einem der berühmtesten Opernhäuser der Welt nach meinen Ideen inszenieren zu dürfen war grandios. Meine flackernden Kerzen haben nicht nur Rußstriche an den Wänden hinterlassen, sondern auch die Leidenschaft entfacht, nach den verborgenen Bildern und Geschichten zu suchen, die in meiner Heimatstadt Wien konserviert sind. Hinter den glänzenden Fassaden lauern die Schatten seltsamer Begebenheiten, wispern tausend Stimmen: Sie warten darauf, entdeckt zu werden.

2019 war ich, Jahrzehnte später, wieder in der Opera Garnier – diesmal allerdings in den goldglänzenden Prunkräumen. Und auch hier seltsame Geschichten. Als ich die Keller mit Fackeln beleuchtete wusste ich nichts vom Feuertod der jungen Ballerina Emma Livry, die Mitte des 19. Jahrhunderts den Ruhm sucht. Mit ihren 20 Jahren steht sie am Beginn einer aufregenden Karriere, ihre majestätische Interpretation von „La Sylphide“ macht sie berühmt. Bei ihren Auftritten will sie dem Rampenlicht näher sein als alle anderen – am 15. November 1862 fängt ihr Kostüm am Gaslicht Feuer. Ein letztes Mal richten sich alle Blicke auf sie, als lebende Fackel läuft sie noch drei Mal durch die Kulisse. Von den Verletzungen erholt sie sich nicht mehr; mit ihr sinkt auch das „romantische Ballett“ mit all seiner Sinnlichkeit, Magie und Exotik ins Grab, Emma Livry war die letzte Ballerina dieser Ära.

Eine ausführliche Fotoseite habe ich hier zusammengestllt: https://www.viennaslide.com/features/Paris-Opera/

Unter den Straßen der Lichterstadt

Unter den Straßen der Lichterstadt

Paris war der erste Ort, der mir neben Wien zu einer Art Heimat wurde: Mit 16 wurde ich dorthin geschickt, um Französisch zu lernen. Es war gleichzeitig der erste Ort, an dem ich wirklich frei war, abgekoppelt von Zwängen und Familienstrukturen, die mich in Wien beschränkten.

Es war wahrscheinlich kein Zufall, dass meine Suche nach besonderen Plätzen dann gerade in Paris begann: Alle unsere Geschichten, die wir mit uns tragen, sind untrennbar verflochten mit den Orten, an denen wie sie erleben. Bis heute ist diese Stadt mein Sehnsuchtsort, meine zweite Heimat, meine heimliche Geliebte, während ich mit Wien quasi verheiratet bin.

Meine Suche nach „ Lost Places “ hat sich in den letzten Jahren wie von selbst nach Paris verlagert; mir scheint, dass Wien inzwischen nicht mehr ausreichend viele Geheimnisse bietet. Die „ Lichterstadt “ ist dagegen auch ein Ort der Schatten; unter der Metropole warten unglaubliche Plätze darauf, legal oder illegal erforscht zu werden: die kafkaesken Gänge und schwarzen Schächte der Metro, die den Pulsschlag der Stadt bestimmt, oder die tief unter den Straßen liegenden Katakomben und Steinbrüche, aus denen vor Jahrhunderten das Baumaterial für die Häuser darüber gebrochen wurde.

Paris, Metro, in einem alten Metrozug, abgestellt irgendwo im Gleisgewirr

Wieder einmal finde ich mich auf „Forschungsmission“ , mit einer kleinen Gruppe von „Cataphiles“, Freunden der Unterwelt; eine unauffällige Tür in einer abgelegenen Metrostation, der irgendwie organisierte richtige Schlüssel – und wir streifen durch stillgelegte Metrotunnels, durch ehemalige Kraftzentralen, durch vergessene Labyrinthe aufgelassener Haltestellen. Jahrzehntealte Werbung hat sich an den Wänden erhalten, und vor uns führt ein dunkler Schacht ins Ungewisse.

Das Netz aus Tunnels ist das Wurzelwerk der Stadt, und die Lust, es zu erforschen, ähnelt der Suche nach den eigenen Wurzeln. Und so wird die Suche nach den magischen Orten, den eigenartigen Anekdoten zum Spiegelbild der Suche nach der eigenen Geschichte. Ein uralter Metrowagen, außen mit Sprayfarbe verunstaltet: Mich ziehen die Sitze, Wände und Böden an, die seit Jahrzehnten niemand mehr berührt hat. Diese Type verkehrte noch, als ich zum ersten Mal hier war, vielleicht bin ich selbst vor vierzig Jahren hier gesessen. Diese Tunnels mit ihren Verzweigungen und rätselhaften Gleisen, die sich irgendwo im Dunkel verlieren, machen mich neugierig auf die Abenteuer, die vor mir liegen. Ich folge den Schienen von den abgestellten Wagen zur Hauptlinie, Züge donnern an mir vorbei.

Für den futuristischen Maler Gino Severini war die Metro „ein illuminierter Körper, der durch einen abwechselnd dunklen und erleuchteten Tunnel fließt“ ; Bei all der Suche nach vergangenen, verlorenen Orten denke ich aber auch an die Entdeckungen, die noch vor mir liegen und damit an einen Satz des russischen Fotografen Alexander Rodtschenko: „Die Zukunft ist unser einziges Ziel“.

Fotos: https://www.viennaslide.com/features/Paris-Metro/

Für das Feuilleton der Wiener Tageszeitung Die Presse habe ich einen etwas ausführlicheren Artikel dazu verfasst: http://www.mauerspiel.at/texte/2024-07-20-Presse-Spectrum-Metro.pdf

Meine liebe Freundin Céline hat auf ihrem Blog über das Verschwinden des Métrotickets geschrieben: https://feelingparis.net/adieu-kleines-metroticket/