Budapest, Gresham Palace um 1990: ein Haus am Ende aller Zeit. Die Fassade ragt unvermittelt in die Höhe wie eine brüchige Felswand, in deren Klüften sogar die Zeit zerschellt. Am Hauptkamm des Gebirges sitzen Türme wie Burgen, die das Geheimnis von Verfall und Beharrung bewachen. Wie ein böses Maul wartet der Torbogen auf mutige Besucher – von innen offenbart das Eisengitter aber wunderschön-romantische, schmiedeeiserne Pfauen. Die Wände der geheimnisvollen Passage dahinter sind schwarz vom Staub vergangener Jahrzehnte, unsichtbare Maschinen dröhnen aus versteckten Höfen, Kellern, Schächten. Mit Herzklopfen betritt man die engen Stiegenhäuser; Verrottung und Verfall, kahle Glühbirnen. Eine Tür führt in einen Hof, und wie eine Erscheinung aus einer anderen Welt glüht plötzlich das farbenprächtige Fensterband über alle Stockwerke. Prachtvollste Glasarbeiten sind dem Verfall entgangen, vollkommen deplatziert beleuchten die Kristalle und farbigen Bleigläser Mülltonnen und Schutt…
Was damals nicht denkbar war und nur knapp gelungen ist: Die Rettung des Palastes. Heute ist er so elegant wie zur Zeit seiner Errichtung, und wer ihn bewohnen will, muss erneut tief in die Tasche greifen: The Gresham Palace wurde zum Luxushotel – und zu einem Wahrzeichen der Stadt an prominenter Lage am Ufer der Donau.
„Jugendstil in Budapest“ ist ein Buch, das ich 2023/2024 fotografiert haben – 30 Jahre, nachdem ich das Thema zum ersten Mal bearbeitet habe:
Mitte der 1980er-Jahre – in den Wiener Musicalhäusern gab man „Das Phantom der Oper“ – hatte ich die Idee, den Originalschauplatz der Story zu fotografieren. Die Direktion der Pariser Oper reagierte verhalten. Mein euphorisch vorgetragener Plan, nicht nur in die Keller vordringen, sondern sie auch noch mit Fackeln beleuchten zu wollen, war dann aber ausreichend absurd, mich zu empfangen und mir den Generalschlüssel zu überlassen.
An diesem Tag führte mich mein Weg von den Schnürböden unter dem Dach bis in die tiefsten Keller. Und obwohl der unterirdische See des Phantoms nichts anderes war als ein Löschwasserbecken: Die Herzkammer tief unter einem der berühmtesten Opernhäuser der Welt nach meinen Ideen inszenieren zu dürfen war grandios. Meine flackernden Kerzen haben nicht nur Rußstriche an den Wänden hinterlassen, sondern auch die Leidenschaft entfacht, nach den verborgenen Bildern und Geschichten zu suchen, die in meiner Heimatstadt Wien konserviert sind. Hinter den glänzenden Fassaden lauern die Schatten seltsamer Begebenheiten, wispern tausend Stimmen: Sie warten darauf, entdeckt zu werden.
Am SchnürbodenDer unterirdische SeeVergessene Kellertreppen
2019 war ich, Jahrzehnte später, wieder in der Opera Garnier – diesmal allerdings in den goldglänzenden Prunkräumen. Und auch hier seltsame Geschichten. Als ich die Keller mit Fackeln beleuchtete wusste ich nichts vom Feuertod der jungen Ballerina Emma Livry, die Mitte des 19. Jahrhunderts den Ruhm sucht. Mit ihren 20 Jahren steht sie am Beginn einer aufregenden Karriere, ihre majestätische Interpretation von „La Sylphide“ macht sie berühmt. Bei ihren Auftritten will sie dem Rampenlicht näher sein als alle anderen – am 15. November 1862 fängt ihr Kostüm am Gaslicht Feuer. Ein letztes Mal richten sich alle Blicke auf sie, als lebende Fackel läuft sie noch drei Mal durch die Kulisse. Von den Verletzungen erholt sie sich nicht mehr; mit ihr sinkt auch das „romantische Ballett“ mit all seiner Sinnlichkeit, Magie und Exotik ins Grab, Emma Livry war die letzte Ballerina dieser Ära.
Ein Buch zu schreiben ist wie ein Schiff zu bauen: Hat man endlich die passende Werft in Form des Verlags gefunden, legt man es mit dem Autorenvertrag auf Kiel. Danach kommt die Arbeit der Konstruktion, monatelang werden die Teile zueinander gebracht, werden Ideen kalfatert, werden erste Anekdoten und Informationen zu robustem Tauwerk geflochten, wird unnützes über Bord geworfen. Der Grafiker hisst Zierleisten und Dekorationen wie bunte Wimpel, und die Fotos sind wie Segel, die das Werk kraftvoll antreiben, auf dass es andere Barken hinter sich lässt am Schlachtfeld des umkämpften Buchmarkts. Endlich ist das Schiff ausreichend robust, um vom Stapel gelassen zu werden; das signieren der ersten Belege fühlt sich an wie die Schiffstaufe. Dann ist das Büchlein aber auf sich allein gestellt in der Weite der Leserschaft, der man keine unklare Formulierung von hinten über die Schulter erklären kann: Der Autor kann nur vom fernen Ufer gute Fahrt wünschen.
Mit dem Abriss der Post-City verliert Linz die interessanteste Ausstellungs-Location Österreichs
Es ist ein moderner Lost Place: Bis vor zehn Jahren war das von außen unspektakuläre Betriebsgebäude eine einzige riesige Maschine, in der Menschen nur eine Nebenrolle gespielt haben. Sortieranlagen und kilometerlange Förderbänder waren das Adernsystem unter der Stahlbetonhaut, die dreidimensionale Maschinenstruktur mit ihren spiralförmigen Paketrutschen zieht sich durch mehrere Geschoße. Raumgrößen und -höhen waren auf die Riesenmaschine abgestimmt, LKW-Auffahrtsrampen und Rangierräume im ersten Stock spannen ebenso riesige Räume auf wie die ebenerdige Gleishalle; dazwischen dann fast winzige Büroräume, das „Hauptstiegenhaus“ ist kleiner als das in manchem Gemeindebau. Im Keller, dem „Bunker“ dann nackte Betonhallen und enge Korridore: rohe industrielle Strukturen, die gleichzeitig Möglichkeitsräume öffnen, insgesamt etwa 100.000 Quadratmeter.
Dabei war das Verteilzentrum nur zweieinhalb Jahrzehnte lang in Betrieb; zu schnell hat sich das Geschäft der Post verändert, zu sehr hat die verkehrsgünstige Lage neben dem Bahnhof Begehrlichkeiten geweckt. Inzwischen stehen die Förderbänder still, die Paketverteilung wurde nach Allhaming auf die grüne Wiese verlegt, ein Bahnanschluss ist heute nicht mehr gefragt.
Als Zwischennutzung bespielt seit 2015 das Ars Electronica Festival einmal im Jahr das Areal, und für dieses einzigartige Zukunftslabor gibt es keinen passenderen Ort als die tote Maschinenwelt. Die Ars Electronica verwandelt die bizarre Poststation in eine Wunderkammer digitaler Kunst, in Österreich viel zu wenig wahrgenommen, dafür international umso bekannter – es ist das weltweit größte Festival für die Auseinandersetzung mit der digitalen Zukunft, für Kreativität, für Medienkunst.
Dass die „Post-City“ der Stadt verloren geht, banalen Wohntürmen weichen soll, ist ein dramatischer Verlust: Ich kenne europaweit keinen besseren Ausstellungsraum. Mit der Ars Electronica gehört Linz zur weltweiten Avantgarde; das erst wenige Jahrzehnte alte Gebäude abzureißen ist nicht nur kulturell ein Drama: Statt visionärer Kunst gestrige Stadtplanung, Wohnklötze zwischen einem Autobahnzubringer und dem Gleisfeld des Hauptbahnhofes – Investoren haben sowieso schon abgewunken. Als Wohnquartier ist das Areal fragwürdig; für ein Veranstaltungszentrum kombiniert mit universitärer Nutzung wäre die Lage ideal. Von einer „fortwährenden Zwischennutzung“ hätte die Stadt wohl mehr – auf Dauer.
François Schuiten ist ein Star der belgisch-französischen Comicszene; Graphic Novels haben im französischsprachigen Raum eine ungleich höhere Wertschätzung als in Deutschland oder Österreich. Berühmt geworden ist er mit der Alben-Serie „Die geheimnisvollen Städte“, die er zusammen mit dem Autor Benoît Peeters geschaffen hat. Schuiten stammt aus einer Architektenfamilie; als Kind sah er Modelle und Zeichnungen, hat die katastrophale Entwicklung Brüssels seit den 1960er-Jahren miterlebt: „Brüsselisierung“ ist ein eigenes Architekturfachwort, das die rücksichtslose Opferung historischer Stadtstrukturen beschreibt.
Die Serie der „Cités Obscures“ erzählt dystopische Geschichten, in der die Städte einer mysteriösen Parallelwelt die Hauptrolle spielen: ähnlich der Realen, aber leicht verschoben, voller kunstgeschichtlicher Andeutungen, Verknüpfungen, versteckter Hinweise. Dabei berühren sich die Welten manchmal sogar, wie in der Pariser Metrostation „Arts et Métiers“, die Schuiten gestaltet hat; auch das Brüsseler Museum „Train World“, das Maison Autrique des Jugendstilarchitekten Victor Horta und zahlreiche andere Ausstellungen wurden von ihm entworfen und damit Teil des Vexierspiels.
Paris, Metro Arts et MétiersParis, Metro Arts et MétiersBrüssel, Metro Porte de Hal
Während in „Die Mauern von Samaris“ eine Stadt ganz im Stil von Victor Horta idealisiertes Spiegelbild Brüssels ist, behandelt das zentrale Werk „Brüsel“ die städtebauliche Katastrophe der belgischen Hauptstadt, die Zerstörung durch die Bauspekulation, den Größenwahn. „Brüssel hat die Verbindung zu sich selbst und seiner Geschichte verloren. Die Stadt ist wie mit einem Messer in Stücke geschnitten worden; das Zeichnen hilft da ein wenig beim Heilen. Als Zeichner mache ich Schneiderarbeit und versuche die Wunden zu vernähen“, sagt Schuiten im Interview.
François SchuitenFrançois SchuitenFrançois Schuiten
Nirgendwo ist man den dunklen Städten näher als im Pariser Atelier von Schuiten. Es ist ein kleines, lichtes Haus in einem Arrondissement, in dem Paris noch ein wenig seiner Ursprünglichkeit bewahrt hat, und ein Schatzkästchen voller Artefakte: Ich kann ihren jeweiligen Platz im Universum der „Dunklen Städte“ präzise verorten. Es ist für mich ein aufregender Besuch; meine Interessen drehten sich immer um Architektur, Urbanismus und Soziologie, die „Dunklen Städte“ waren mir seit dem ersten Band seelenverwandt. Hier bin ich in der Herzkammer dieser Welt, und ein Phänomen tritt auf, das ich von meinen Architekturprojekten kenne: Gedachtes, Gezeichnetes klappt aus der Phantasie in den dreidimensionalen Raum, während Schuiten mit kraftvollen, ausladenden Gesten über Details der von ihm geschaffenen Welten und künftigen Projekten spricht. Zwischendurch greift er immer wieder zur Tuschefeder, während unseres Gesprächs entsteht ein Portrait von Captain Nemo, dem Held des letzten Bandes der „Cités Obscures“. Präzise und scheinbar mühelos setzt Schuiten im Stil alter Kupferstiche Strich neben Strich.
Paris, Centre PompidouTaxandriaParis, Centre Pompidou
„Die Rückkehr von Kapitän Nemo“ wird möglicherweise der letzte Band der Serie und verknüpft Jules Vernes Buch „20.000 Meilen unter dem Meer“ mit dem „Dunklen Kontinent“. Neben Vernes Romanheld ist ein Hybridwesen aus Octopus und Nautilus Hauptdarsteller, und als riesige Metallskulptur ist es auch Teil eines Projekts für die Heimatstadt des Autors. In Amiens entsteht mit „Auf den Spuren von Jules Verne“ ein Pfad mit Erinnerungsorten und Kunstwerken, hier wird die Skulptur künftig auf einer Terrasse über der Stadt thronen. Ab Dezember wird sie sich aber für einige Monate vor dem Brüsseler Justizpalast aus dem Boden tauchen – auch dieses monströse historische Gebäude spielt eine wiederkehrende Hauptrolle in den „Geheimnisvollen Städten“. Auf seiner Reise verbindet der Octo-Nautilus von Kapitän Nemo damit reale und utopische Welten in einer Stadt, die sich mit ihrer Geschichte und ihren Möglichkeiten immer schwer getan hat.
Im faschistischen Italien kam es zu einigen Stadtneugründungen, vorerst in den Pontinischen Sümpfen südöstlich von Rom – deren Trockenlegung war Teil von Mussolinis Arbeitsbeschaffungsprogramm.
Die erste neue Stadt ist Littoria (heute Latina), ihr folgen noch einige weitere „città nuove“ in der Region: fünf Jahre, fünf Städte, ein großer Propagandaerfolg. 1937 wird ein letztes Musterstädtchen angelegt, symbolhaft für die Zusammenarbeit von Großkapital und Faschismus, eine Modellsiedlung für die Zusammenführung von Industrie und Landwirtschaft: Torviscosa. Schilfrohr wird auf riesigen, geometrisch angeordneten Feldern gepflanzt und in der Fabrik zu Zellulose verarbeitet: Hier wird die Versöhnung von Natur und Industrie gefeiert und von Futuristen als „Potenz der Geometrie“ besungen. Geplant für 5.000 Menschen, bewohnt von knapp 3.000 – die Stadt kann die leeren Grundstücke an den großzügigen Achsen nie füllen; so bleibt die pathetische Prachtstraße mit ihren martialischen Sportlerstatuen vor dem Freibad bis heute ein zu breiter Weg durch einen wilden Park.
Toviscosa wurde unter Benito Mussolini 1938 nach Trockenlegung der umliegenden Sümpfe als Prestigeobjekt mit einer riesigen Zellulose-Fabrik und architektonisch durchdachter Arbeitersiedlung im Sinne großer Autarkiebestrebungen angelegt.
Einige der verfallenden Gebäude wurden zwar anlässlich der 50-Jahr-Feier renoviert, trotzdem erinnern die Arkaden entlang menschenleerer Plätze an die irrationalen Bilder eines Giorgio de Chirico. Torviscosa war eine der letzten von zwölf faschistischen Stadtgründungen und damit das Ende der Idee, die Arbeiter in autarken GartenstadtIdyllen mit Fabrik, Freizeitanlagen, Theater, Sportstätten und Restaurants unterzubringen und damit schlussendlich zu kontrollieren.