Die Wiener Kaffeehäuser sind ja so eine Sache, die Stadt zelebriert dort ihr kollektives Stockholm-Syndrom – man hasst die unfreundlichen Kellner und den schlechten Kaffee, Änderungen sind aber nicht erwünscht. Das Weidinger ist da untypisch, aber trotzdem echter als manches berühmte Etablissement, der Besitzer freundlich, der Kaffee in Ordnung. Es liegt aber so weit ab der üblichen Pfade, dass es sich erst gar nicht um Klischees bemüht: in Ottakring und am Gürtel, Wiener Randschaft seit immer. Im Weidinger ist es fast lautlos an diesem Sommerabend, angekettet warten die Billard-Queues auf ihre Besitzer, auf der Kegelbahn im Keller poltert keine Kugel. Ein schweigsamer Philosoph sinniert vor einem großen Bier, um das Krügerl stehen fünf kleine Schäpse als Nachbrenner für Nachtgedanken. Eine junge Frau wartet auf ihren heimlichen Geliebten, und draußen fällt die große Straße langsam in die Nacht. Der Windfang hält mit seiner Glastür die Gegenwart in Schach, still gerinnt die Zeit.
Ein anderer Tag, ein anderer Ort: Im Café Heumarkt treffe ich Selma, eine Autorin, ich kannte sie bisher nur schriftlich. Das Heumarkt ist trotz guter Lage die Antithese jedes Touristencafes, die Eigentümer – Selma nennt sie liebevoll „ihre beiden Eulenvögel“ – irritiert bei jedem neuen Besucher, Selmas stammgastliche Hilfe daher notwendig, um das spröde Nest fotografieren zu dürfen. Ich stelle fest: In randschaftlichen Lokalen bleibt neben der Uhr auch der Zigarettenautomat stehen, auch hier könnte man mittels Schillingeinwurf Hobby, Falk oder Dames erwerben, die technischen Voraussetzungen sind gegeben. Überhaupt, die Technik. „Hör mal“,sagt Selma, als sich die Kühlvitrine einschaltet: Ein Klirren läuft als Auftakt durch die Tellerchen, während der Kompressor aufknurrt, dann dröhnt der ganze Apparat, um nach einem letzten Erbeben wieder zur Ruhe zu kommen, für eine kurze Viertelstunde. Es ist die einzige akustische Untermalung in dem sonst stillen Saal.
Selma ist eine große, starke Frau mit einem zarten, romantischen Herz. Sie genießt das seltsame Café so wie ich unser langes Gespräch. Sie erzählt von der seinerzeitigen Reparatur ihrer Lieblingsgeldbörse bei Herrn Jentsch, einem längst verstorbenen Lederspezialist, und ich fühle wieder die ewige Gegenwart, die sich an manchen Wiener Orten verfangen hat. „Trotzdem braucht es manchmal neue Rituale“, sagt Selma zu mir, und zu einem ihrer Eulenvögel, als er ihrem Hund ein Schinkenstück zuwirft, dann ganz leise: „lassen Sie mich in Zukunft bei der Verabschiedung einfach sagen: … ich liebe Sie!“ Der alte Herr wird verlegen, und in diesem Moment bin auch ich ein wenig verliebt: in Selma, in das alte Café, in alle seltsamen alten Eulenvögel dieser seltsamen alten Stadt.