Auf der Buchmesse

Auf der Buchmesse

In den Sozialen Medien ist mir die Szene der verhinderten Autoren aufgefallen, um die herum sich eine regelrechte Industrie gebildet hat – in Schreibworkshops, Kursen und Coachings bestärken sie sich so lange, bis sie im Eigenverlag (also auf eigene Kosten) ihr Buch auf einen nicht vorhandenen Markt bringen. Die Buchmesse ist dann der Garten voller hochhängender Trauben, so nah kommt man den Profis sonst nirgendwo, und wenn man am Stand von Suhrkamp ein Büchlein ersteht hat man das Gefühl, direkt aus der Quelle getrunken zu haben.

Selbst schreibe ich zwar recht viel, fühle mich aber nicht direkt als Autor. Ich empfinde Schreiben mehr Notwendigkeit und Handwerk denn als große Kunst – wenn es etwas zu sagen gibt finden sich die Worte von selbst, l’art pour l’art liegt mir nicht so.

Von einem meiner Verlage wurde ich zu Propagandazwecken auf die Buchmesse befohlen. Ich fühle dann, doch irgendwie dabei zu sein, schon die Möglichkeit, seine Jacke im Messestand des Verlages verstauen zu dürfen schafft ein Gefühl der Gildezugehörigkeit – auch wenn die Signierstunde zur Resignierstunde wird, weil doch keiner das Buch kaufen möchte.

Neben den Platzhirschen gibt es eine seltsame Gruppe von Spezialverlagen, hier wähnt man sich auf der Esoterikmesse, hat die Ahmadiyya Muslim Jamaat ihre Koje neben dem Christlichen Gesundheitswerk, nur getrennt durch „Happy Science“ (mit Wissenschaft haben die lächelnden Asiaten aber wohl wenig zu tun). Hier steht die Drückerkolonne wie vor einer venezianischen Pizzeria und zieht die Messebesucher in Gespräche – die meisten nehmen deshalb lieber die nächste Gasse. Auch sonst Skurrilitäten: „Fleisch“, eigentlich ein Gesellschaftsmagazin, erhielt den Stand zwischen Kochbox und Espressomobil, offensichtlich in Verkennung des Themas.

Will man zum Ausgang, muss man erst durch die Halle von Thalia – ähnlich wie ein Museumsshop, hier werden die in Stimmung gekommenen Autoren nochmal gemolken und mit dem konfrontiert, was sie nie erreichen werden: Bücher, die auch tatsächlich verkauft werden.

Wien, Gasometer vor Umbau

Schön Leer

Ein Sommertag, ich bin in den späten 1990ern mit dem Rad unterwegs, komme an den Gasometern in Wien Simmering vorbei. Die Gegend ist ein seltsames Niemandsland am Rand der Stadt: Industrieruinen, Gärtnereien, ein einsames Wirtshaus, Bahngleise, ein alter Gemeindebau. Die Umwidmung steht bevor, bald werden Wohnbauten das Bild bestimmen. Die alten Gasometer sind ikonische Sehenswürdigkeiten im Osten der Stadt, sie sollen mit Wohnbauten gefüllt werden, noch ist davon nichts zu sehen. Zu meiner großen Überraschung sehe ich ein Tor offen stehen. Ungehindert betrete ich den riesigen Hohlraum – und bin überwältigt.

Ich war zwar schon früher bei Veranstaltungen hier, aber noch nie war ich in so einem großen Raum völlig alleine. Die Dimension ist gar nicht recht fassbar, es gibt keine vertrauten Objekte, an denen man sie messen könnte. Fast ehrfürchtig stehe ich in der Mitte des gewölbten Bodens. Eine unendlich lange Treppe führt in den Dachbereich, ich erkenne, dass diese Gelegenheit nie wieder kommt. Ewig steige ich nach oben, fühle mich wie eine Fliege an der Zimmerwand. Der Umgang unter der Dachkuppel ist eine schmale Eisenkonstruktion, das Geländer ein zarter Handlauf. Eine Leiter führt darüber hinweg zu einer Dachluke, und ich überwinde meine Höhenangst für einen Moment, steige nach draußen – und habe den Eindruck, auf einem Zwergplaneten zu stehen, so mächtig wölbt sich die Kuppel vor mir.

Gasthaus Praschl

Kreta in Wien

Wien-Favoriten: „Kreta“ wird dieser kleine Stadtteil genannt, der wie eine Insel zwischen Verkehrsbändern liegt, vor der Klippenküste eines monströsen Gemeindebaus der 1980er, am äußersten Rand des Bezirks.

Herr Praschl ist ein stiller Mann. Inmitten der bunten Flackerlichter der Zuwanderer-Lokale in der „Kreta“ ist es das letzte Wiener Gasthaus, und es bleibt dunkel – „es sind ja eh keine Gäste da“. Die wenigen, die doch kommen, sind einsame Seelen der Umgebung, die in langen Monologen die unverbrüchliche Treue von Freundschaften heraufbeschwören, die nach einigen Flaschen Bier nur am Wirtshaustisch existieren: Feststellungen von großer Tragweite, getroffen mit großer Schlagseite. Herr Praschl hört all dem geduldig zu, stundenlang, nur manchmal dringt er mit kleinen leisen Bemerkungen in die verschachtelte Unlogik lauter Wiederholungen der Vortragenden. „Ich brauch Freind, die besser san als I – I bin nur a afoches Madl!“: Aus dem Brei irrlichternder Emotionen ragen da gelegentlich scharf akzentuierte Wortbrocken, laut in den Raum gestellt, im Zeitverlauf dann immer mehr durch stumme Gesten ersetzt; die Hände können länger sprechen als die Lippen, wenn der Kopf schwer wird.

Herr Praschl sitzt weiterhin da und hört zu, nur manchmal kommt doch etwas Bewegung ins Lokal: Die Bewohner des Gemeindebaus holen sich im Gassenverkauf Bier oder Red Bull, je nach ethnischen Wurzeln, und irgendwann hält es auch Frau Brigitte nicht mehr aus am Holzbankerl: Dann tanzt sie im scharf aus dem Dunkel geschnittenen Bogen zu lautloser Karaokemusik, bis sich Herr Praschl doch überreden lässt – und endlich das Radio einschaltet, nur halblaut, denn Herr Praschl ist ein stiller Mann.

Schlussendlich wurde es zu still im Gasthaus Praschl: Die Corona-Krise hat das Geschäft ausgetrocknet, die Kreta ist zu abgelegen, um Gäste von außerhalb des kleinen Stadtteils anzuziehen. 2024 musste das Gasthaus schließen, ein kleines Denkmal aus Papier konnte ich ihm noch in meinem Buch Randschaften errichten.

www.mauerspiel.at/randschaften

Damien Hirst

Damien Hirst

„Treasures from the Wreck of the Unbelievable“ – das Konzept: ein Schiff, die „Unglaubliche“, ist vor 2000 Jahren gesunken, und mit ihr jede Menge Kunstschätze. Damien Hirst hat sie gefunden und geborgen. Angeblich…

Mit seiner Ausstellung in Venedig hat Hirst eine unfassbare Kitschorgie produziert. Der einzige Trost ist, dass der ganze Ramsch in den Foyers von arabischen Hotels und Palazzi von Oligarchen landen wird und der Normalsterbliche ihn nicht mehr ertragen wird müssen. Vielleicht schmücken auch ein paar Russen ihre Yachten damit, dann besteht zumindest die Chance, dass der Dreck endgültig dorthin versinkt, wo er angeblich herkommt.

Kein Klischee wird ausgelassen, schamlos wird in die Weltkunstgeschichte gegriffen und die kunsthistorischen Beschreibungen gleich selbst dazuerfunden. Von Balinesischen Masken über Ägyptische Sphingen bis zu pseudogriechischen Statuen in sonder Zahl; bei den Damen wurde auf kein anatomisches Detail vergessen, die Erotik soll ja auch nicht zu kurz kommen.

Wie sehr Hirst Unternehmer ist, sieht man daran, dass es Objekte in allen Größen ebenso gibt wie in mehreren Farben, passend zu jeder Oligarcheneinrichtung in Bronze, Silber und Gold. Die Jahre bis zur Pension wird er davon leben, die Trümmer zu verscheppern. Vorher anschauen muss man sie sich aber nicht wirklich.

https://www.artnews.com/artnews/news/a-disastrous-damien-hirst-show-in-venice-8262

2017 in Venedig (Fotos); Zeichnungen zum Projekt sieht man bis 12. Oktober 2025 in der Wiener Albertina Modern:

https://www.albertina.at/albertina-modern/ausstellungen/damien-hirst

Abschied von der stillen Stadt

Abschied von der stillen Stadt

Ab dem 16. März 2020 wurde erstmals ein bundesweiter Lockdown verfügt, der ab Ostern wieder schrittweise gelockert und am 1. Mai 2020 gänzlich aufgehoben wurde. Es war in diesen Wochen leicht, dystopische Fotos zu machen; besser gefiel mir aber, wie sich die Stadt in dieser Zeit anfühlte, wie sie von den Menschen wieder in Besitz genommen wurde. Die Stimmung erinnerte mich an meine Kindheit, an einen Samstagnachmittag im Sommer, wenn die Geschäfte schon geschlossen hatten und man den freien Sonntag noch vor sich hatte.

Als noch nicht an jeder Ecke ein Fast-Food-Standl lockte, schmierte man sich ein Butterbrot und setzte sich in den Park; auf der Bank las man ein Buch, man hatte ja Zeit. Und so war es auch jetzt: Die Wohngegenden waren wieder große leise Inseln, Autos hörte man meist nur, wenn man den Hauptstraßen zu nahe kam, ansonsten schnitt schon das Sirren eines Fahrrades einen dünnen Strich in die Stille, eine neue Leichtigkeit schien über der Stadt zu liegen.

Um Abstand zu halten wich man auf die Fahrbahn aus, und man ging nach Gehör: wenn das ständige Hintergrundrauschen verstummt, nimmt man ein Fahrzeug wahr, lang bevor es zur Gefahr wird. Auch die Innenstadt war nun wieder wie damals, als ich begann sie zu erforschen, keine Touristengruppe, kein grelles Lokal störte die Sicht auf die Palais, von deren Schönheit nun kaum etwa ablenkte. Wien war endlich wieder Stadt für Flaneure, sonst zu laut und zu gedrängt für zielloses Streunen. Der letzte Spaziergang war aber auch wehmütig: die Geschäfte öffneten wieder, damit ging dieser eigenartige ewige Samstag zu Ende. Er war teuer erkauft, wird aber als wertvolle Erinnerung bleiben.

Schrecklich schön

Schrecklich schön

2001 begegnete ich Peter Sengls Arbeiten zum ersten mal bewusst: „Schrecklich schön“ hieß die Retrospektive im Wienmuseum. Dort: seine in Verschraubungen, Verspannungen, Verklemmungen gefangene Figuren. Trotzdem wirken sie stolz und frei, nehmen die Modifikationen fast teilnahmslos hin, und oft ist ein schelmisches Augenzwinkern dabei.

Ich dachte mir, „wow“, rief den Künstler an und wurde eingeladen.

Sengls Atelier ist ein Pandemonium prachtvoller Absonderlichkeiten, eine Wunderkammer nach meinem Geschmack, und mittendrin eine präparierte Kuh – Peter Greenaway hatte sie für seine Ausstellung „hundert Dinge erzählen die Welt“ im Waldviertel bestellt und danach zurückgegeben, Sengl hat sie gekauft. Ich konnte Sengl damals für eine „erotische Familienausstellung“ in meiner Galerie gewinnen: Mit seiner Frau Susanne Lacomb und seiner Tochter Deborah Sengl verwirrte das Gespann meine Besucher.

Immer in grellbunt gemusterten Maßanzügen, wirkt Sengl wie ein Renaissance-Malerfürst. Seine Welt erinnert an Herzmanovsky-Orlando, und seine Bildtitel passen dazu, rätselhaft, ironisch, poetisch sind sie: „Daungelassene Blumenrosenschultertränenquart für mein Grab“ liest man da, oder „Neunfacher Schwanungsblick“; als er meine Freundin malte, wurde daraus „Ingrids Blumentatoo-Tanz mit Clementine und Holunder“.

Gestern wurde Sengl 80 Jahre alt, und in einer Innenstadtgalerie wurde gefeiert.

https://www.suppanfinearts.com/de
http://www.petersengl.at/

Astor Piazzolla

Astor Piazzolla

1983 hatte ich einen Job, der eigentlich keiner war, da es kein Geld gab: Ich war Ordner bei „Stimmen der Welt“. Der Deal war, dass man als Ordner irgendwo rumstand, und wenn einem eine Band am Herzen lag, sagte man das und wurde auf einen perfekten Platz eingeteilt. Zum Ausgleich hat man dann ein anderes Mal den Notausgang bewacht oder so was – Gentleman’s Agreement, in den 80ern konnte man noch so arbeiten. Ich habe damals Joan Baez kennen gelernt (ich war vor ihrer Garderobe eingeteilt), mit Freddy Mercury hinter der Stadthallenbühne beim Müsliessen gesmalltalkt und mit Nina Hagen rumgeblödelt… Dann war ein „Tangokonzert“ am Programm, ich ging widerwillig hin und bekam einen Schlafjob oben am Balkon des Konzerthauses. Tango. Jessas. Fade, dachte ich, Fado war mir noch unbekannt, und auch wenn ich den Unterschied zwischen Pizza und Piazza kannte – von einem Piazzolla hatte ich noch nie was gehört.

Irgenwann kam ein verhutzeltes Männchen mit Zieharmonika auf die Bühne, und ich: Oh Gott.

Und dann ging es los.

Und meine Ohren machten Augen.

Und es wurde mit jedem Stück besser, der Saal hat getobt – und am Schluss, als bei Adios Nonino die Violine einsetzte, haben wir alle geheult.

Als sich „mein Bereich“ geleert hatte bin ich zu den Garderoben abgebogen und hab mich mit meinem Ausweis durchgedrängt, bin einfach zur Band rein – und die waren genauso von den Socken: Das Wiener Publikum gilt als unbestechlich, und selten wurde Piazzolla so gefeiert wie an diesem Abend. Und so kam’s, dass ich mit einem Glaserl Rotwein Piazzolla zuprostete.

Es war eines meiner eindringlichsten Musikerlebnisse, und glücklicherweise sah das der Künstler ähnlich: „The Vienna Concert“ erschien vom ORF perfekt mitgeschnitten auf Vinyl und wurde Piazollas berühmteste Live-Aufnahme überhaupt.

Welt der Wunder

Welt der Wunder

„Das Antiquariat schien einerseits nach hinten im Gebäude zu versickern, andererseits wie ein Trichter Eigentümliches aus aller Welt und aller Zeit einzusaugen, um es auf dem ständig überquellenden Pult auszuspucken.“

…eine Wiener Wunderkammer inspirierte mich so sehr, dass ich sie als Handlungsort für meinen Roman „Das verdammte Manuskript“ nach Paris verpflanzte, wo ich sie in der Galerie Vero Dodat ansiedelte. Dabei war diese historische Passage selbst ein Ort der Wunder, die verstaubten Geschäfte bewahrten wie rätselhafte Schatullen noch in den 1980ern Seltsamkeiten sonder Zahl: historische wissenschaftliche Gegenstände, ein Vogelgerippe unter einem Glassturz oder riesige tropische Falter, wie bunte Blumen in einem Rahmen arrangiert – all das hinter matten Auslagenscheiben in trübem Licht.

Die Idee der Wunderkammern stammt aus der späten Renaissance, als die Sammlungen kurioser Gegenstände noch unwissenschaftlich präsentiert wurden; die fast kindliche Naivität macht aber den Reiz aus. Für mich ist es die rein ästhetische Zusammenstellung der Exponate, die Konzentration purer Schönheit auf engstem Raum, die diese Sammlungen so anziehend macht. In Venedig ist das Museo Furtuny, der frühe Palast des gleichnamigen Bildhauers, Erfinders und Architekten, ein solcher Ort.

Nach langer Geringschätzung wurde die Idee der Wunderkammer in letzter Zeit auch von Museen wieder entdeckt. Mit seinen „Boxes“ hat der amerikanische Künstler Joseph Cornell zahlreiche Miniatur-Wunderkammern geschaffen, 2015 waren seine fragilen Arbeiten im Wiener Kunsthistorischen Museum zu sehen; in der Sammlung Heidi Horten schufen Hans Kupelwieser und Markus Schinwald mit dem „Tea Room“ einen besinnlichen Raum der Kontemplation, in dem Hortens Sammlung kunstgewerblicher Kleinode hinter kreisrunden Luken gezeigt werden.

Das erste kapitalistische Weihnachtsfest

Das erste kapitalistische Weihnachtsfest

Vor 35 Jahren, im Dezember 1989, beschließt Österreich unter dem Eindruck der Berliner Maueröffnung, die Visapflicht für tschechoslovakische Staatsbürger aufzugeben (die kommunistische Führung war am 25.11. zurückgetreten). Ein unglaublicher Strom von Einkaufstouristen ergießt sich nach Wien. Die Mariahilfer Straße – durch den U-Bahn-Bau längst zur Ramschmeile verkommen – bietet schon länger Billigwaren für ungarische Touristen an und wird von den Wienern scherzhaft Magyarhilferstaße genannt. Wien reagiert, versucht die Auto- und Buskolonnen zu den Messeparkplätzen umzuleiten. Der Mexikoplatz, damals Schmuggelzentrum für Ostwaren über die Donau, wird zum weiteren Treffpunkt, „Pop-Up-Stores“ verkaufen Unmengen von Weissware und Unterhaltungselektronik. Sex-Shops werden ebenso ungläubig bestaunt wie Bankomaten. Zuvor waren Einkaufsfahrten in die andere Richtung beliebt: Österreicher deckten sich zu Spottpreisen in den Supermärkten von Bratislava/Pressburg („Gratislava, Fressburg“) mit Lebensmitteln und Zigaretten ein.

Es ist das erste kapitalistische Weihnachtsfest der uns umgebenden Ostländer – und gleichzeitig der Beginn der enormen Veränderung Wiens von einer grauen Sackgasse am Rand einer vom Eisernen Vorhang umgebenen Westhalbinsel zu einer der lebenswertesten Metropolen Europas; und für einen Moment dachte man, die Welt würde nun zu einem besseren Ort.

https://noe.orf.at/stories/3024413