Ab dem 16. März 2020 wurde erstmals ein bundesweiter Lockdown verfügt, der ab Ostern wieder schrittweise gelockert und am 1. Mai 2020 gänzlich aufgehoben wurde. Es war in diesen Wochen leicht, dystopische Fotos zu machen; besser gefiel mir aber, wie sich die Stadt in dieser Zeit anfühlte, wie sie von den Menschen wieder in Besitz genommen wurde. Die Stimmung erinnerte mich an meine Kindheit, an einen Samstagnachmittag im Sommer, wenn die Geschäfte schon geschlossen hatten und man den freien Sonntag noch vor sich hatte.
Als noch nicht an jeder Ecke ein Fast-Food-Standl lockte, schmierte man sich ein Butterbrot und setzte sich in den Park; auf der Bank las man ein Buch, man hatte ja Zeit. Und so war es auch jetzt: Die Wohngegenden waren wieder große leise Inseln, Autos hörte man meist nur, wenn man den Hauptstraßen zu nahe kam, ansonsten schnitt schon das Sirren eines Fahrrades einen dünnen Strich in die Stille, eine neue Leichtigkeit schien über der Stadt zu liegen.
Um Abstand zu halten wich man auf die Fahrbahn aus, und man ging nach Gehör: wenn das ständige Hintergrundrauschen verstummt, nimmt man ein Fahrzeug wahr, lang bevor es zur Gefahr wird. Auch die Innenstadt war nun wieder wie damals, als ich begann sie zu erforschen, keine Touristengruppe, kein grelles Lokal störte die Sicht auf die Palais, von deren Schönheit nun kaum etwa ablenkte. Wien war endlich wieder Stadt für Flaneure, sonst zu laut und zu gedrängt für zielloses Streunen. Der letzte Spaziergang war aber auch wehmütig: die Geschäfte öffneten wieder, damit ging dieser eigenartige ewige Samstag zu Ende. Er war teuer erkauft, wird aber als wertvolle Erinnerung bleiben.
2001 begegnete ich Peter Sengls Arbeiten zum ersten mal bewusst: „Schrecklich schön“ hieß die Retrospektive im Wienmuseum. Dort: seine in Verschraubungen, Verspannungen, Verklemmungen gefangene Figuren. Trotzdem wirken sie stolz und frei, nehmen die Modifikationen fast teilnahmslos hin, und oft ist ein schelmisches Augenzwinkern dabei.
Ich dachte mir, „wow“, rief den Künstler an und wurde eingeladen.
Sengls Atelier ist ein Pandemonium prachtvoller Absonderlichkeiten, eine Wunderkammer nach meinem Geschmack, und mittendrin eine präparierte Kuh – Peter Greenaway hatte sie für seine Ausstellung „hundert Dinge erzählen die Welt“ im Waldviertel bestellt und danach zurückgegeben, Sengl hat sie gekauft. Ich konnte Sengl damals für eine „erotische Familienausstellung“ in meiner Galerie gewinnen: Mit seiner Frau Susanne Lacomb und seiner Tochter Deborah Sengl verwirrte das Gespann meine Besucher.
Immer in grellbunt gemusterten Maßanzügen, wirkt Sengl wie ein Renaissance-Malerfürst. Seine Welt erinnert an Herzmanovsky-Orlando, und seine Bildtitel passen dazu, rätselhaft, ironisch, poetisch sind sie: „Daungelassene Blumenrosenschultertränenquart für mein Grab“ liest man da, oder „Neunfacher Schwanungsblick“; als er meine Freundin malte, wurde daraus „Ingrids Blumentatoo-Tanz mit Clementine und Holunder“.
Gestern wurde Sengl 80 Jahre alt, und in einer Innenstadtgalerie wurde gefeiert.
1983 hatte ich einen Job, der eigentlich keiner war, da es kein Geld gab: Ich war Ordner bei „Stimmen der Welt“. Der Deal war, dass man als Ordner irgendwo rumstand, und wenn einem eine Band am Herzen lag, sagte man das und wurde auf einen perfekten Platz eingeteilt. Zum Ausgleich hat man dann ein anderes Mal den Notausgang bewacht oder so was – Gentleman’s Agreement, in den 80ern konnte man noch so arbeiten. Ich habe damals Joan Baez kennen gelernt (ich war vor ihrer Garderobe eingeteilt), mit Freddy Mercury hinter der Stadthallenbühne beim Müsliessen gesmalltalkt und mit Nina Hagen rumgeblödelt… Dann war ein „Tangokonzert“ am Programm, ich ging widerwillig hin und bekam einen Schlafjob oben am Balkon des Konzerthauses. Tango. Jessas. Fade, dachte ich, Fado war mir noch unbekannt, und auch wenn ich den Unterschied zwischen Pizza und Piazza kannte – von einem Piazzolla hatte ich noch nie was gehört.
Irgenwann kam ein verhutzeltes Männchen mit Zieharmonika auf die Bühne, und ich: Oh Gott.
Und dann ging es los.
Und meine Ohren machten Augen.
Und es wurde mit jedem Stück besser, der Saal hat getobt – und am Schluss, als bei Adios Nonino die Violine einsetzte, haben wir alle geheult.
Als sich „mein Bereich“ geleert hatte bin ich zu den Garderoben abgebogen und hab mich mit meinem Ausweis durchgedrängt, bin einfach zur Band rein – und die waren genauso von den Socken: Das Wiener Publikum gilt als unbestechlich, und selten wurde Piazzolla so gefeiert wie an diesem Abend. Und so kam’s, dass ich mit einem Glaserl Rotwein Piazzolla zuprostete.
Es war eines meiner eindringlichsten Musikerlebnisse, und glücklicherweise sah das der Künstler ähnlich: „The Vienna Concert“ erschien vom ORF perfekt mitgeschnitten auf Vinyl und wurde Piazollas berühmteste Live-Aufnahme überhaupt.
„Das Antiquariat schien einerseits nach hinten im Gebäude zu versickern, andererseits wie ein Trichter Eigentümliches aus aller Welt und aller Zeit einzusaugen, um es auf dem ständig überquellenden Pult auszuspucken.“
Wien, Antiquariat ‚Zum Stein der Weisen‘Paris, Galerie Vero-Dodat
…eine Wiener Wunderkammer inspirierte mich so sehr, dass ich sie als Handlungsort für meinen Roman „Das verdammte Manuskript“ nach Paris verpflanzte, wo ich sie in der Galerie Vero Dodat ansiedelte. Dabei war diese historische Passage selbst ein Ort der Wunder, die verstaubten Geschäfte bewahrten wie rätselhafte Schatullen noch in den 1980ern Seltsamkeiten sonder Zahl: historische wissenschaftliche Gegenstände, ein Vogelgerippe unter einem Glassturz oder riesige tropische Falter, wie bunte Blumen in einem Rahmen arrangiert – all das hinter matten Auslagenscheiben in trübem Licht.
Die Idee der Wunderkammern stammt aus der späten Renaissance, als die Sammlungen kurioser Gegenstände noch unwissenschaftlich präsentiert wurden; die fast kindliche Naivität macht aber den Reiz aus. Für mich ist es die rein ästhetische Zusammenstellung der Exponate, die Konzentration purer Schönheit auf engstem Raum, die diese Sammlungen so anziehend macht. In Venedig ist das Museo Furtuny, der frühe Palast des gleichnamigen Bildhauers, Erfinders und Architekten, ein solcher Ort.
Venedig, Museo FortunyVenedig, Museo Fortuny
Nach langer Geringschätzung wurde die Idee der Wunderkammer in letzter Zeit auch von Museen wieder entdeckt. Mit seinen „Boxes“ hat der amerikanische Künstler Joseph Cornell zahlreiche Miniatur-Wunderkammern geschaffen, 2015 waren seine fragilen Arbeiten im Wiener Kunsthistorischen Museum zu sehen; in der Sammlung Heidi Horten schufen Hans Kupelwieser und Markus Schinwald mit dem „Tea Room“ einen besinnlichen Raum der Kontemplation, in dem Hortens Sammlung kunstgewerblicher Kleinode hinter kreisrunden Luken gezeigt werden.
Im Atelier des Italienischen Malers Saturno ButtóHeidi Horten Kollektion, Tea RoomWohnung eines Wiener Kunstsammlers
Vor 35 Jahren, im Dezember 1989, beschließt Österreich unter dem Eindruck der Berliner Maueröffnung, die Visapflicht für tschechoslovakische Staatsbürger aufzugeben (die kommunistische Führung war am 25.11. zurückgetreten). Ein unglaublicher Strom von Einkaufstouristen ergießt sich nach Wien. Die Mariahilfer Straße – durch den U-Bahn-Bau längst zur Ramschmeile verkommen – bietet schon länger Billigwaren für ungarische Touristen an und wird von den Wienern scherzhaft Magyarhilferstaße genannt. Wien reagiert, versucht die Auto- und Buskolonnen zu den Messeparkplätzen umzuleiten. Der Mexikoplatz, damals Schmuggelzentrum für Ostwaren über die Donau, wird zum weiteren Treffpunkt, „Pop-Up-Stores“ verkaufen Unmengen von Weissware und Unterhaltungselektronik. Sex-Shops werden ebenso ungläubig bestaunt wie Bankomaten. Zuvor waren Einkaufsfahrten in die andere Richtung beliebt: Österreicher deckten sich zu Spottpreisen in den Supermärkten von Bratislava/Pressburg („Gratislava, Fressburg“) mit Lebensmitteln und Zigaretten ein.
Es ist das erste kapitalistische Weihnachtsfest der uns umgebenden Ostländer – und gleichzeitig der Beginn der enormen Veränderung Wiens von einer grauen Sackgasse am Rand einer vom Eisernen Vorhang umgebenen Westhalbinsel zu einer der lebenswertesten Metropolen Europas; und für einen Moment dachte man, die Welt würde nun zu einem besseren Ort.
„Wer schreibt, der bleibt“, artikulierte der nachhaltig erfrischte Literatendarsteller im Cafe Kafka bemüht, bevor sein Kopf schwer auf den Marmortisch aufschlug. „Kann schon sein – aber wir haben jetzt Sperrstund'“. Die Nacht wurde unbequem, aber am nächsten Tag hatte er erstmals etwas zu erzählen.
„Ich bin hier wie ein Soldat, der auf eine Ablöse wartet, die nie kommt“: die Stimme von Frau Jentsch ist fast feenhaft zart, wenn sie im Film „Aus der Zeit“ über ihre Arbeit spricht. Sie hat unter einem Patriarchen gedient, Herr Jentsch war ein kraftvoller Mann, hat über seine Weltreisen Bücher geschrieben. Seine liebsten Koffer waren aber leer: sie standen in seinem Lederwarengeschäft in der Kaiserstraße zum Verkauf, das seit 1874 existiert.
Harald Friedl hat das Geschäft 2006 portraitiert, in den langen, ruhigen Einstellungen entfaltet sich die kleine Welt, die Ersatz für die große wurde. „Wenn ich hier bin, habe ich das Gefühl, das Geschäft hat nie begonnen und hört nie auf – man arbeitet hier in Muße, man ist in der Hand der Zeit, und die hält irgendwie den Kurs. Das Geschäft selber ist die Zeit, sie ist hier anders, stabiler als an anderen Orten.“
Wien, Kaiserstraße, Lederwarengeschäft Jentsch, Eigentümer August Benedikt Jentsch mit Partnerin
Tatsächlich konnte Frau Jentsch vor einigen Jahren abrüsten; auch wenn das Geschäft „nie aufhört“, verließ Herr Jentsch die Kommandobrücke, und sein Sohn übernahm. Benedikt Jentsch ist hauptberuflich Architekt, seine Arbeit ist nun das Fundament für die Fortsetzung der ewigen Gegenwart; zusammen mit seiner Frau, die während seines Broterwerbs die Stellung hält ist (das Geschäft trägt sich derzeit nicht selbst), will er weiterhin versuchen, diese Lücke in der Zeit geöffnet zu halten.
Während ich in der Stille der Werkstatt fotografiere, denke ich an das Schild des verschwundenen Treibriemenherstellers im Raimundhof, das mich immer fasziniert hat: „In wenigen Minuten endlos“ – ich konnte es damals nicht retten, aber hier, in dieser Kapelle für die Ewigkeit, sollte es an der Wand hängen, statt dem Kruzifix.
Die Corneliusgasse ist eine völlig nebensächliche kurze Gasse mitten in Wien, etwas ansteigend, voll mit geparkten Autos. Gerade mal die Stiege am Ende der Sackgasse, sie führt zur zwei Stockwerke höher liegenden Straße, ist vielleicht erwähnenswert, aber nichtmal sie hat was Besonderes – eine kahle Betontreppe, Romantik sieht anders aus. Das änderte sich an einem Weekend im August schlagartig: Da wurde die Gasse plötzlich Sehnsuchtsort tausender junger Mädchen, wurde zum Treffpunkt – und die überraschten Anrainer wussten nicht, wie ihnen geschieht.
Im August 2024 fluten fast 200.000 junge Menschen die Stadt, zu 95% weiblich – die „Swifties“ kamen, Fans von Taylor Swift, dem derzeit erfolgreichsten Popstar weltweit, älteren Musikliebhabern unbekannt. Und da ist dann noch ein verpeilter Jugendlicher, 19 Jahre alt, seine Stars die anonymen Fusselbärte des bizarren „Islamischen Staats“. Er und ein Kumpel wurden zwar erfolgreich verhaftet, trotzdem war die Exekutive ausreichend alarmiert, das Großereignis abzusagen; tragisch, dass sich die Behörden außerstande sahen, eine normale Stadionveranstaltung sicher durchzuführen. Es wurde viel geweint in den Stunden nach dem Schock, die Swifties, erst bitter enttäuscht, waren dann aber wild entschlossen, das Beste draus zu machen. Und die Corneliusgasse wurde zur Ersatzlocation: Ein Song des Stars dreht sich um ihren früheren Wohnort Cornelia Street, und nichtmal die grundsätzlich grantigen Wiener Bewohner der grauen Nebengasse konnten sich der Lebensfreude der aus der ganzen Welt angereisten Mädels entziehen.
Ein Glitzern liegt über der Stadt
200.000 junge Menschen – auch in einer Großstadt wie Wien ist deren Anwesenheit nicht zu übersehen. Und die Stadt hat auf die Absage fantastisch reagiert: Freier Eintritt in etlichen Museen oder Schwimmbädern, die Clubs haben sich dem angeschlossen, haben die Öffnungszeiten ans Alter der Swifties angepasst und vieles mehr. Auf der Mariahilferstraße, am Stephansplatz, in der Corneliusgasse – überall Pailletten zu sehen, die Songs zu hören, Fischerchöre nichts dagegen! Freundschaftsbändchen an jedem Handgelenk, auch bei den gut gelaunten Polizisten: Achtsamkeit statt Achter. Plötzlich werden auch im Gesicht des grauhaarigen Kommandanten die Lachfalten sichtbar, plötzlich ist auch er mit Perlenarmbändern behängt, während seine Untergebenen ihr Schulenglisch hervorholen, um vor den Amerikanerinnen zu brillieren. Und die Anrainer feiern aus den Fenstern mit, reichen Wasserbecher raus, aus dem zweiten Stock flattern ausgedruckte Zettel – „Cornelia Street“ steht auf dem rasch gestalteten blauen Wiener Straßenschild aus Papier.
Das ist die eigentliche Überraschung, wenn man in die Corneliuscrowd, in das Wiener Sommermärchen eintaucht: die ansteckende unerschütterliche Lebensfreude. Es sind junge und sehr junge Mädchen, die hier ihre Hymnen singen, sie handeln von Liebe, von Trennungen, vom erwachsen werden, von Empowerment; es sind Gesichter, die sich gerade auf die Reise vom Kind- zum Frausein gemacht haben, mit Proviant aus stärkenden Liedern: Heartbreakers gonna break, and the fakers gonna fake, Baby, I′m just gonna shake it off…
Im hereinbrechenden Abend glitzern Handylämpchen über der Menge, und hochgehaltene Hände formen Herzen – nun wird sogar die Corneliusstiege romantisch wie die Treppen des Montmartre. Dann wird es langsam stiller; um 23.00 ist Nachtruhe, und langsam löst sich die Party auf. Am nächsten Tag, Sonntag, nur noch Spuren, eine kleines Grüppchen steht um den glasperlenverzierten Baum und singt, diesmal klingt es wie eine stille Andacht. Kreideaufschriften am Boden: We can do it with a broken heart, steht da, Fearless, oder Fuck the Patriarchy – tatsächlich haben drei junge Männer, denen die Kraft westlicher Frauen unerträglich war, zu vielen den Spaß verdorben. Sich von solchen Leuten nicht einschüchtern zu lassen – das muss unsere Demokratie von den jungen Swifties lernen, die der Stadt gezeigt haben, wie man Lebensfreude lebt.
Die Wiener Kaffeehäuser sind ja so eine Sache, die Stadt zelebriert dort ihr kollektives Stockholm-Syndrom – man hasst die unfreundlichen Kellner und den schlechten Kaffee, Änderungen sind aber nicht erwünscht. Das Weidinger ist da untypisch, aber trotzdem echter als manches berühmte Etablissement, der Besitzer freundlich, der Kaffee in Ordnung. Es liegt aber so weit ab der üblichen Pfade, dass es sich erst gar nicht um Klischees bemüht: in Ottakring und am Gürtel, Wiener Randschaft seit immer. Im Weidinger ist es fast lautlos an diesem Sommerabend, angekettet warten die Billard-Queues auf ihre Besitzer, auf der Kegelbahn im Keller poltert keine Kugel. Ein schweigsamer Philosoph sinniert vor einem großen Bier, um das Krügerl stehen fünf kleine Schäpse als Nachbrenner für Nachtgedanken. Eine junge Frau wartet auf ihren heimlichen Geliebten, und draußen fällt die große Straße langsam in die Nacht. Der Windfang hält mit seiner Glastür die Gegenwart in Schach, still gerinnt die Zeit.
Wien 3., Cafe Heumarkt
Ein anderer Tag, ein anderer Ort: Im Café Heumarkt treffe ich Selma, eine Autorin, ich kannte sie bisher nur schriftlich. Das Heumarkt ist trotz guter Lage die Antithese jedes Touristencafes, die Eigentümer – Selma nennt sie liebevoll „ihre beiden Eulenvögel“ – irritiert bei jedem neuen Besucher, Selmas stammgastliche Hilfe daher notwendig, um das spröde Nest fotografieren zu dürfen. Ich stelle fest: In randschaftlichen Lokalen bleibt neben der Uhr auch der Zigarettenautomat stehen, auch hier könnte man mittels Schillingeinwurf Hobby, Falk oder Dames erwerben, die technischen Voraussetzungen sind gegeben. Überhaupt, die Technik. „Hör mal“,sagt Selma, als sich die Kühlvitrine einschaltet: Ein Klirren läuft als Auftakt durch die Tellerchen, während der Kompressor aufknurrt, dann dröhnt der ganze Apparat, um nach einem letzten Erbeben wieder zur Ruhe zu kommen, für eine kurze Viertelstunde. Es ist die einzige akustische Untermalung in dem sonst stillen Saal.
Selma ist eine große, starke Frau mit einem zarten, romantischen Herz. Sie genießt das seltsame Café so wie ich unser langes Gespräch. Sie erzählt von der seinerzeitigen Reparatur ihrer Lieblingsgeldbörse bei Herrn Jentsch, einem längst verstorbenen Lederspezialist, und ich fühle wieder die ewige Gegenwart, die sich an manchen Wiener Orten verfangen hat. „Trotzdem braucht es manchmal neue Rituale“, sagt Selma zu mir, und zu einem ihrer Eulenvögel, als er ihrem Hund ein Schinkenstück zuwirft, dann ganz leise: „lassen Sie mich in Zukunft bei der Verabschiedung einfach sagen: … ich liebe Sie!“ Der alte Herr wird verlegen, und in diesem Moment bin auch ich ein wenig verliebt: in Selma, in das alte Café, in alle seltsamen alten Eulenvögel dieser seltsamen alten Stadt.
Praktisch völlig aus dem Stadtbild verschwunden sind die kleinen Bezirkskinos. Oft waren es „Schlauchkinos“, mit wenigen Sitzplätzen in umso mehr Reihen. Das bekannteste und wohl auch klassische von ihnen war das Bellariakino, bekannt für seine Spezialisierung auf die große Zeit der österreichischen Filmproduktion: Paul Hörbiger, Hans Moser, unvergessene Stars in unvergessenen Produktionen. Die wenigen Kinos, die die Multiplexwelle überlebt haben, sind heute Programmkinos und wenden sich an anspruchsvolles Publikum: Admiral, Filmcasino, Metro. Die meisten Säle wurden zu Supermärkten, vereinzelt lassen sich aber noch Spuren aus dieser versunkenen Welt finden. Das älteste Kino Wiens ist gleichzeitig das letztes Sexkino der Stadt.
Wien, Fortuna-Kino, das zweitälteste Kino und letztes Sexkino der Stadt
Mario Adlassnig liebt das Kino – und so widmet er sich neben seiner Firma für Bewässerungstechnik einem speziellen Hobby: dem letzten Sexkino Wiens. Für uns als Jugendliche waren diese Ohne-Pause-Kinos die erste Bildungseinrichtung für Grundlagen des Zwischenmenschlichen, und wir schlichen tagelang um den Block, bevor wir endlich in eine Kinokarte fürs „Rondell“ investierten. Das damalige Ambiente bestand aus einer strengen älteren Dame an der Kassa und im Saal verstreuten Herren im Trenchcoat, die ihrer einsamen Beschäftigung nachgingen. So manch siechendes Kino versuchte sich damals in Erotik, bevor das Licht auf der silbernen Leinwand endgültig verglühte; „Währinger Gürtel“, „Weltspiegel“, „Schäfferkino“ waren für neugierige 16jährige zuverlässige Garanten für rote Ohren. Es waren allerdings auch dauerhaft prägende Eindrücke, wenn im Rondell Damen mit jahrzehntelanger Mannequin-Erfahrung die gerade aktuelle Reizwäschekollektion präsentierten oder während der Vorstellung die Billeteurin im weißen Arbeitsmantel durch den Saal ging, aus der hoch erhobenen Spraydose einen Lysoform-Kondensstreifen hinterlassend. All das gibt es heute nicht mehr, das Fortunakino ist blitzsauber, die Kundschaft besteht aus Pärchen auf der Suche nach Mitspielern oder einfach dem kleinen Kick im Alltagsleben. Auch rechtlich ist alles wasserdicht; die Bordellkonzession ermöglicht „echte Action“ im Separee oder auf den großen Couches, die beliebte letzte Reihe im Kino ist also nicht nur fußfrei, sondern auch schrittoffen. Auch wenn Herr Adlassnig zum Kino gekommen ist wie die Jungfrau zum Kind – im Zentrum seines Begehrens steht echte Kinogeschichte. Die Pornos kommen vom Beamer, aber im Vorführraum steht ein riesiger 35mm-Projektor, und er hofft auf Sponsoren, die das wunderbare Ungetüm wieder zum Leben erwecken. Schon jetzt zeigt er einmal im Monat Filmklassiker, und vielleicht kommt irgendwann der Moment, in dem sich der rote Vorhang öffnet und von weit hinten, von den kleinen Fensterchen in der Rückwand, das Flimmerlicht Hollywoods Traumwelten neu erstrahlen lässt…