Montmartre

Montmartre

Die jungen Mädchen flattern die Stiegen hinunter und duften nach Maiglöckchen; die honorigen Damen sitzen in den Restaurants und riechen vornehm. Die Häuser ragen wie Zähne in den Nachthimmel und tragen Goldplomben aus unbezahlbaren Atelierwohnungen. Die Blüten in den geheimen Gärten impfen die Luft so wie die Melodie, die aus dem Kellertheater sickert, und auf der Straße streiten zwei Katzen, bis der Hund dazwischengeht; ein Mopedfahrer fräst eine tiefe Rille in den lautlosen Sommerabend. Im Café des Deux Moulins spiegelt sich das Neonlicht im Kupfer des Tresens, und sogar die Japanerinnen umflort ein Hauch von Amelie – am Montmartre findet jeder sein Paris: Stille Nächte im Klischee, und trotzdem bezaubernd.

Lienz

Lienz

Ein Fotoauftrag für einen Autobushersteller führte mich am Samstag nach Lienz in Osttirol, und so kam es, dass ich mit einem Buszug einen Ausflug auf die Bergstraßen rund ums Mölltal machte. Tirol ist ja was eigenes – es sind robuste Menschen dort, die „aussefoarn“, wenn sie auf Reisen gehen, mit dir per du sind („woha kimmschd’n lei‘?“) und eine Sprache pflegen, die weniger aus Dialogen, vielmehr aus Feststellungen ohne Widerspruchsmöglichkeit besteht. Die Vokale werden dabei ausgeschmiert wie ein Reindl mit Kässpätzle, und die vielen weichen SCH sind das Fett, auf dem die Sätze daher rutschen.

Dann hatte ich noch ein wenig Zeit für Lienz, und was soll ich sagen – prachtvoller hat sich noch kaum ein Herbst von mir verabschiedet. Dis Stadt ist angenehm belebt, der Hauptplatz voll mit Menschen im T-Shirt, in den Gastgärten alle Tische besetzt. Überall merkt man, dass hier das Geld herkommt, das dann in Wien veruntreut wird – in den Cafes ist das letzte Abstellkammerl neben dem Klo im Keller massiv mit Marmor und Granit verfliest, die Türblätter schwer, die Möbel teuer.

Die Reste eines Lebens

Die Reste eines Lebens

Wien, Stephansplatz. Eine Altbauwohnung mit etwa 200 Quadratmetern, seit Jahrzehnten nicht mehr renoviert; eine Zeitkapsel mit den Resten eines langen Lebens. Über den Schichten vergangener Erinnerungen liegen Fragmente einer kurzen Theaterproduktion: um Kafka ging es, um den „Prozess“. Nichts hätte besser gepasst, hier, in der Wohnung eines ehemaligen Rechtsanwalts und seiner Frau. Andenken an Jahrzehnte, persönliche Dokumente, Tagebücher mit Dingen, die man niederschreiben musste, und die doch nach 30 Jahren belanglos sind. In den Rudimenten zu wühlen fühlt sich obszön an: Was vom Leben bleibt sind staubige Notizbücher, zerfallende Urkunden, sentimentale Briefe an die Kinder, so persönlich wie banal. Die Inhalte des aufbewahrten Schriftguts haben sich über die Jahre sowieso geändert: Von Rechtswissenschaft und Medizin zu später ebenso sorgsam gesammelten Strickanleitungen aus Burda-Heften. Die Handlungsfäden eines 90-Jährigen Lebens sind gemeinsam mit denen aus Kafkas Stücken auf Garnspulen gewickelt, und sie werden nie wieder entwirrt.


Am Mittwoch kommen kräftige Jungs, und der Container.

Weitere Bilder: https://www.viennaslide.com/features/Wien-Verlassenschaft

Berlin, Brandenburger Tor

Berlin

Berlin also. Lang hab ich mich gedrückt, ich wollt’ ja nie so richtig hin, weil ich mich geärgert habe, diese seltsame, im Meer der Finsternis schwimmende Insel nicht rechtzeitig vor dem Mauerfall angesteuert zu haben.

Aber jetzt: Endlich da.

Und ich war nicht vorbereitet auf die Wucht, mit der die Stadt mit Geschichte aufgeladen ist. Am 9. November 1989 saß ich vor meinen kleinen Schwarzweissfernseher, mit offenem Mund und feuchten Augen. Und heute reichen allein die Namen, um mich zutiefst zu erschüttern: Von Wannsee nach Spandau sind es nur paar S-Bahn-Stationen, das Olympiastadion dazwischen. Brandenburger Tor, Reichstag, Friedrichstraße, Bornholmer Brücke, Bahnhof Zoo ohne Kinder vom, Unter den Linden, Berlin Alexanderplatz. Und da, wo einfach ein paar Pflastersteine den früheren Verlauf der Mauer andeuten, hab ich noch die Stimme einer Frau im Ohr, die etwas zu spät dran war: “Ick will doch nur eenmal im Leben durchs Brandenburger Tor gehn, nich’ mehr!” – und der plötzlich weichgewordene Stasi-Offizier geht mit ihr nach dem Ende der Mauerparty tatsächlich von Osten her durch die Sprrerrzone, das seltsame Paar ist als Schattenriss einsam zwischen den Säulen zu sehen.

Damals hat mein Europa begonnen, und die Liebe hat seither nie mehr nachgelassen.