Das Palastgebirge ragt in den Gewitterhimmel, im Inneren liegt eine umgestülpte Stadt im Halbdunkel: Es ist das größte Gebäude des Historismus, gebaut von einem Architekten, der zuvor, so sagt man, erst eine einzige Säule entworfen hatte: Der Justizpalast in Brüssel.
Eine ganze Serie von Kulissenfassaden wuchert um das Hauptportal, der Zugang zum Recht braucht einen Auftakt in Fortissimo. Dahinter, im Saal der verlorenen Schritte, ist es still. Die Dimensionen sind pathetisch, kippen aber in absurde Lächerlichkeit. Der Raum versickert im Säulenwald, die große Treppe führt nur in den ersten Stock, der Grundriss ist seltsam undurchschaubar.
In einer Wandnische finde ich einen kleinen Lift. Ich fahre ganz nach oben und lande in einem schmalen Zwischenraum mit engen Stahltreppen. Dann: Endlose Gänge, Stille, muffige Büros, verlassene Bibliotheken. Zwangsläufig erscheint das Bild von Kafkas Schloss, hier, in diesem Schattenpalast. Seltsam eng sind die schwer zu findenden Stiegenhäuser; immer wieder Ausblicke aus staubigen Fenstern auf graue Innenhöfe, wie Schimmel umspinnen verfallende Gerüste die Fassaden, sie sind zarter Gegensatz zum robusten Baukörper.
Den Weg zurück zu finden ist schwierig, unauffällige Türen führen zu schmalen Treppen. Weiter unten werden die Korridore wieder prunkvoll, huschen Richter in ihren Roben über den glatten Boden. Am Horizont der Wandelhalle rettende Inseln aus warmem Licht, Tische, Bänke. Ein Student sitzt hier und lernt, dutzende Meter weiter spricht ein Anwalt mit seinem Klienten. Wie betäubt verlasse ich das monströse Bauwerk, das von außen noch sinnloser massiv wirkt. Aus den Simsen wachsen Bäume; die Erhaltung ist eine vom kleinen Belgien nicht zu schulternde Bürde.
Hier hat Joseph Poelaert die Idee verwirklicht, von der 80 Jahre später Albert Speer träumte: eine einschüchternde Ruine zu bauen. Aber immerhin war der Palast auch Inspiration für echte Künstler: Das Duo Schuiten/Peeters begann mit diesem Gebäude die aufregende Geschichte der „Cités obscures“, wunderbar gezeichnete Bilderbücher aus einer fiktiven Parallelwelt von Stadtstaaten: „Brüsel“, oder „Das Fieber des Stadtplaners“.
Die geplante Renovierung scheint nicht zu bewältigen. Aber wozu auch? Lasst dieses bizarre Schloss, in dem die Märchen nur von Zeugen und Rechtsanwälten erzählt werden, doch einfach verfallen – oder, noch besser: Pflanzt Rosen!
Weitere Fotos: https://www.viennaslide.com/features/Bruxelles-Palaisjustice/
Im Spectrum der Presse habe ich mich dem Thema ausführlicher gewidmet: http://www.mauerspiel.at/texte/2024-11-30-Presse-Spectrum-Schuiten.pdf