Ein Sommertag, ich bin in den späten 1990ern mit dem Rad unterwegs, komme an den Gasometern in Wien Simmering vorbei. Die Gegend ist ein seltsames Niemandsland am Rand der Stadt: Industrieruinen, Gärtnereien, ein einsames Wirtshaus, Bahngleise, ein alter Gemeindebau. Die Umwidmung steht bevor, bald werden Wohnbauten das Bild bestimmen. Die alten Gasometer sind ikonische Sehenswürdigkeiten im Osten der Stadt, sie sollen mit Wohnbauten gefüllt werden, noch ist davon nichts zu sehen. Zu meiner großen Überraschung sehe ich ein Tor offen stehen. Ungehindert betrete ich den riesigen Hohlraum – und bin überwältigt.
Ich war zwar schon früher bei Veranstaltungen hier, aber noch nie war ich in so einem großen Raum völlig alleine. Die Dimension ist gar nicht recht fassbar, es gibt keine vertrauten Objekte, an denen man sie messen könnte. Fast ehrfürchtig stehe ich in der Mitte des gewölbten Bodens. Eine unendlich lange Treppe führt in den Dachbereich, ich erkenne, dass diese Gelegenheit nie wieder kommt. Ewig steige ich nach oben, fühle mich wie eine Fliege an der Zimmerwand. Der Umgang unter der Dachkuppel ist eine schmale Eisenkonstruktion, das Geländer ein zarter Handlauf. Eine Leiter führt darüber hinweg zu einer Dachluke, und ich überwinde meine Höhenangst für einen Moment, steige nach draußen – und habe den Eindruck, auf einem Zwergplaneten zu stehen, so mächtig wölbt sich die Kuppel vor mir.
Halb geschäftlich verschlug es mich zwei Tage nach Rom, Sightseeing-Programm hatte ich keines, allerdings Bilder eigenartiger Prestigebauten am Stadtrand in Erinnerung. Und tatsächlich: Es sind Reste einer faschistischen Weltausstellung, die nie eröffnet wurde – heute ist das Stadtviertel das Wirtschaftszentrum von Rom, hat einen guten Ruf und ist auch als Wohngegend beliebt.
An Mussolinis Gegenwart stört sich kaum wer, im Cafe plaudere ich mit einem Römer: „Das ist Teil der Geschichte, nicht erfreulich, aber gehört zu Italien. Wie ist das übrigens mit dem Geschlecht der Habsburger, das in Wien allen Touristen präsentiert wird? Zimperlich waren die auch nicht gerade…“
Auch nicht ganz falsch, und hier, im martialischen EUR-Viertel, ist inzwischen Gras über die dunkle Vergangenheit gewachsen. Die Bronzestatue „Genius des Faschismus“ wurde mit paar Bändern zum „Genius des Sports“ umdekoriert, und dass Mussolini in aller Herrlichkeit ein riesiges Relief dominiert stört auch niemand mehr. Das „Quadratische Kolosseum“, der zentrale Symbolbau und einst„Palast der Italienischen Zivilisation“, wurde ganz banal an eine Modefirma vermietet. Eine Influenzerin irrt zwischen den Arkaden herum, hat sich vom Markennamen Glamour erwartet, findet aber nur banale Flipcharts hinter den Fenstern. Drückend liegt die Hitze über dem surrealen Stadtviertel, und ein dunkelhäutiger Arbeiter zupft schwitzend das Unkraut aus den Stiegen – auch achtzig Jahre nach dem Ende des faschistischen Regimes scheinen die Rollen hier klar verteilt.
Es war einer der typischen Zufälle, die eine ganze Kette von inspirierenden Begegnungen auslösen: 2023 sah ich beim Preview der Architekturbiennale in Venedig im ungarischen Pavillon das Modell eines aufregenden Gebäudes. Ich sprach die Pressedame an, und sie meinte, „kommen sie in zwei Stunden wieder, dann wird der Architekt da sein!“. Und natürlich war ich zwei Stunden später da, sprach mit dem Museumsdirektor und dem Architekten Marcel Ferencz – und wurde nach Budapest eingeladen, um das Projekt im Original zu sehen.
Und ich war bezaubert: Der 52jährige Architekt hat mit dem neuen Ethnografischen Museum ein glitzerndes Kunstwerk an den Rand des Budapester Stadtwäldchens gesetzt, das wirkt, als wäre ein Stück der Saturnringe auf die Erde gestürzt.
Museumsdirektor Dr. Lajos Kemecsi, Architekt Marcel Ferencz
Es ist der spektakulärste Neubau seit Jahrzehnten. Seit 1956 steht hier das Denkmal für den Ungarnaufstand, es durfte nicht angetastet werden. Während die anderen Wettbewerbsteilnehmer das Denkmal eingerahmt oder überbrückt haben, hat Ferencz sein Museum in den Boden gedrückt: Als Segment eines gedachten Kreises mit einem Kilometer Durchmesser, der in der Mitte unter das Denkmal taucht und an den beiden Enden aus dem Boden steigt. Ein weit geöffneter Kelch für die Kultur, das war die erste Assoziation der Jury, und im Vertrauen erzählt man, dass der Entwurf sofort Favorit war. 300 Meter ist dieses Segment lang, trotzdem ist das Gebäude diskret: Die Dachfläche wurde zum Garten, das Mittelstück ist ein gepflasterter Platz, die beiden aufsteigenden Gebäudeteile bilden ein grünes Portal in den Park, das Denkmal ist unbeeinträchtigt.
Die senkrechten Fassaden der Baukörper erhielten eine Verkleidung aus Aluminiumgittern, in deren Öffnungen kleine Aluwürfel gesteckt sind: Sie bilden abstrahierte volkstümliche Muster nach, inspiriert von je 20 ungarischen und internationalen Vorlagen; angeordnet sind sie auf acht parallelen Bändern, die den Bodenschichten entsprechen, die bei der Bauvorbereitung erbohrt wurden. Auch die Bepflanzung des Dachgartens ist kein Zufall: Sie entspricht der Vegetation, die hier früher, vor der Kultivierung zum Stadtpark, vorherrschend war – und so riecht es hier nach Wiese, nach Lavendel und Thymian.
Mit dieser Reise, mit dieser Führung durch das Projekt habe ich meine Verbindung zu Budapest wiederentdeckt. In den 1990er-Jahren habe ich ein Buch fotografiert: „Jugendstil in Budapest“ hieß es, ein schlankes Bändchen voller schlechter Fotos und holpriger Texte. An diesem Tag beschloss ich, es nochmals zu machen, und diesmal besser – nur ein Jahr später konnte ich das fertige Buch als kleines Dankeschön an Marcel Ferencz senden.
1925 eröffnet in Paris die „Exposition Internationale des Arts Décoratifs et Industriels Modernes“ – eine Kunstgewerbe- und Designausstellung. Sie wird äußerst erfolgreich und gibt dem Stil seinen Namen: Art déco.
Nach dem Ersten Weltkrieg ließ man den Jugendstil hinter sich, die neuen Technologien wurden zelebriert; die verschwenderische Ornamentik des Französischen Art Nouveau wich klareren Formen. Einige Verkehrsmittel erreichten ihren Hochblüte: Zeppeline, Luxuszüge, Ozeandampfer – und ihr Design beeinflusste Kunstgewerbe und Architektur ebenso wie die aufregenden wissenschaftlichen Entdeckungen. Während in Österreich und Deutschland (Wiener Werkstätte, Bauhaus) eher funktionalistische Wege eingeschlagen wurden, strahlte die Pracht des französischen Art déco in die Welt: es wurde der erste globale Stil, das Empire State Building in New York seine Ikone.
100 Jahre später ist Art déco wieder da: In der Pariser Region entstehen ganze Stadtviertel, die den in Frankreich weit verbreiteten Style Paquebot, den „Ozeandampfer-Stil“ wieder aufnehmen. Und er passt perfekt in unsere Zeit: Technikgläubigkeit, Dekadenz und Hedonismus – und gleichzeitig, in Anbetracht der vielen Krisen, wieder ein Tanz auf dem Vulkan, wie vor hundert Jahren.
Weit draußen vor den Grenzen von Paris liegt ein Strich in der Landschaft. Eine Linie spannt sich von spröden Wohnblocks zu einer gefluteten Kiesgrube: Die „Axe Majeur“, die „Hauptachse“ – ein riesiges Architektur-Kunstwerk des israelischen Künstlers Dani Karavan. Die Achse beginnt mit einem leicht geneigten Turm im Mittelpunkt der neobarocken Wohnanlage von Ricardo Bofill und strahlt dann über die Mäander der Oise mehr als 3 Kilometer ins Land. Seit 1986 werden immer wieder Etappen eröffnet, zuletzt 2008 die rote Brücke. Die „Achse“ ist Kunstwerk, Sehenswürdigkeit und Identifikationsobjekt der „Ville Nouvelle“ von Cergy-Pontoise, einer der Satellitenstädte um Paris.
Paris, Cergy-Pontoise, Axe Majeur von Dani Karavan, Belvedere-TurmParis, Cergy-Pontoise, Axe Majeur von Dani Karavan
Wie so oft in Frankreich gelingt die Kombination von Monumentalität und Harmonie. Viele Elemente des Kunstwerks haben symbolische Bezüge, wie die 12 Säulen, die die 12 Stunden des Tages zitieren. Ungerührt von der Topografie läuft die Achse geradlinig durch die Landschaft, durchquert den Garten der Menschenrechte, überspannt ein Amphitheater, eine Bühne, einen Teich. Während die Achse Spazierweg, Raum zur Kontemplation, zur Entspannung ist, inspiriert sie auch zu neuer Kreativität: fast immer trifft man auf Modefotografen oder Filmteams.
Noch ist die Achse nicht vollendet: Eine kreisrunde Insel mit astronomischen Skulpturen soll zum Schlusspunkt werden. Eine kleine Steinpyramide ragt bereits aus dem See, der Brückenschlag fehlt noch; auch danach soll der Schotterteich Lebenswelt für ungewöhnliche Wasservögel und Wildpflanzen bleiben.
Die koreanische Fernsehserie Squid Game spielt mit dem Kontrast von kindlich-lieblichen Sets und brutaler Handlung. Für das Filmset gibt ein reales Vorbild: Der Wohnkomplex „La Muralla Roja“, die rote Mauer, steht an der Mittelmeerküste nahe Alicante in Spanien. Den Ort zu besuchen gelang mir noch nicht, in Barcelona steht allerdings ein ähnliches Gebäude: „Walden 7“ von 1975. Es ein Haus wie ein Bienenstock oder wie ein gigantisches Pueblo, ich hatte den Eindruck einer dreidimensionalen Dorfgemeinschaft. Trotz der modularen Bauweise wirken die immer unterschiedlichen Räume, Brücken und Balkone menschlich – auch durch die Wahl von warmen Farbtönen und Ziegeln als Oberflächen.
Unmittelbar neben Walden 7 ist das alte Zementwerk, das Bofill gekauft und zu seinem Atelier gemacht hat: von den höchsten Etagen des Wohnexperiments sieht man auf die üppig begrünten Dächer des „Taller de Arquitectura“ die endgültige Fertigstellung des immer noch laufenden Umbaus hat er nun nicht mehr erlebt.
Später verloren seine Bauten ihre verspielte Unschuld. Mit Großprojekten wie dem Palacio d’Abraxas in den Pariser Vororten oder dem Antigone-Viertel in Montpellier schuf er zwar weitere Instagram- oder Filmtaugliche Kulissen („Brazil“, „Hunger Games“), die menschlichen Dimensionen gingen aber verloren.
Budapest, Gresham Palace um 1990: ein Haus am Ende aller Zeit. Die Fassade ragt unvermittelt in die Höhe wie eine brüchige Felswand, in deren Klüften sogar die Zeit zerschellt. Am Hauptkamm des Gebirges sitzen Türme wie Burgen, die das Geheimnis von Verfall und Beharrung bewachen. Wie ein böses Maul wartet der Torbogen auf mutige Besucher – von innen offenbart das Eisengitter aber wunderschön-romantische, schmiedeeiserne Pfauen. Die Wände der geheimnisvollen Passage dahinter sind schwarz vom Staub vergangener Jahrzehnte, unsichtbare Maschinen dröhnen aus versteckten Höfen, Kellern, Schächten. Mit Herzklopfen betritt man die engen Stiegenhäuser; Verrottung und Verfall, kahle Glühbirnen. Eine Tür führt in einen Hof, und wie eine Erscheinung aus einer anderen Welt glüht plötzlich das farbenprächtige Fensterband über alle Stockwerke. Prachtvollste Glasarbeiten sind dem Verfall entgangen, vollkommen deplatziert beleuchten die Kristalle und farbigen Bleigläser Mülltonnen und Schutt…
Was damals nicht denkbar war und nur knapp gelungen ist: Die Rettung des Palastes. Heute ist er so elegant wie zur Zeit seiner Errichtung, und wer ihn bewohnen will, muss erneut tief in die Tasche greifen. The Gresham Palace wurde zum Luxushotel – und zu einem Wahrzeichen der Stadt an prominenter Lage am Ufer der Donau.
„Jugendstil in Budapest“ ist ein Buch, das ich 2023/2024 fotografiert haben – 30 Jahre, nachdem ich das Thema zum ersten Mal bearbeitet habe:
Ein Buch zu schreiben ist wie ein Schiff zu bauen: Hat man endlich die passende Werft in Form des Verlags gefunden, legt man es mit dem Autorenvertrag auf Kiel. Danach kommt die Arbeit der Konstruktion, monatelang werden die Teile zueinander gebracht, werden Ideen kalfatert, werden erste Anekdoten und Informationen zu robustem Tauwerk geflochten, wird unnützes über Bord geworfen. Der Grafiker hisst Zierleisten und Dekorationen wie bunte Wimpel, und die Fotos sind wie Segel, die das Werk kraftvoll antreiben, auf dass es andere Barken hinter sich lässt am Schlachtfeld des umkämpften Buchmarkts. Endlich ist das Schiff ausreichend robust, um vom Stapel gelassen zu werden; das signieren der ersten Belege fühlt sich an wie die Schiffstaufe. Dann ist das Büchlein aber auf sich allein gestellt in der Weite der Leserschaft, der man keine unklare Formulierung von hinten über die Schulter erklären kann: Der Autor kann nur vom fernen Ufer gute Fahrt wünschen.
Mit dem Abriss der Post-City verliert Linz die interessanteste Ausstellungs-Location Österreichs
Es ist ein moderner Lost Place: Bis vor zehn Jahren war das von außen unspektakuläre Betriebsgebäude eine einzige riesige Maschine, in der Menschen nur eine Nebenrolle gespielt haben. Sortieranlagen und kilometerlange Förderbänder waren das Adernsystem unter der Stahlbetonhaut, die dreidimensionale Maschinenstruktur mit ihren spiralförmigen Paketrutschen zieht sich durch mehrere Geschoße. Raumgrößen und -höhen waren auf die Riesenmaschine abgestimmt, LKW-Auffahrtsrampen und Rangierräume im ersten Stock spannen ebenso riesige Räume auf wie die ebenerdige Gleishalle; dazwischen dann fast winzige Büroräume, das „Hauptstiegenhaus“ ist kleiner als das in manchem Gemeindebau. Im Keller, dem „Bunker“ dann nackte Betonhallen und enge Korridore: rohe industrielle Strukturen, die gleichzeitig Möglichkeitsräume öffnen, insgesamt etwa 100.000 Quadratmeter.
Dabei war das Verteilzentrum nur zweieinhalb Jahrzehnte lang in Betrieb; zu schnell hat sich das Geschäft der Post verändert, zu sehr hat die verkehrsgünstige Lage neben dem Bahnhof Begehrlichkeiten geweckt. Inzwischen stehen die Förderbänder still, die Paketverteilung wurde nach Allhaming auf die grüne Wiese verlegt, ein Bahnanschluss ist heute nicht mehr gefragt.
Als Zwischennutzung bespielt seit 2015 das Ars Electronica Festival einmal im Jahr das Areal, und für dieses einzigartige Zukunftslabor gibt es keinen passenderen Ort als die tote Maschinenwelt. Die Ars Electronica verwandelt die bizarre Poststation in eine Wunderkammer digitaler Kunst, in Österreich viel zu wenig wahrgenommen, dafür international umso bekannter – es ist das weltweit größte Festival für die Auseinandersetzung mit der digitalen Zukunft, für Kreativität, für Medienkunst.
Dass die „Post-City“ der Stadt verloren geht, banalen Wohntürmen weichen soll, ist ein dramatischer Verlust: Ich kenne europaweit keinen besseren Ausstellungsraum. Mit der Ars Electronica gehört Linz zur weltweiten Avantgarde; das erst wenige Jahrzehnte alte Gebäude abzureißen ist nicht nur kulturell ein Drama: Statt visionärer Kunst gestrige Stadtplanung, Wohnklötze zwischen einem Autobahnzubringer und dem Gleisfeld des Hauptbahnhofes – Investoren haben sowieso schon abgewunken. Als Wohnquartier ist das Areal fragwürdig; für ein Veranstaltungszentrum kombiniert mit universitärer Nutzung wäre die Lage ideal. Von einer „fortwährenden Zwischennutzung“ hätte die Stadt wohl mehr – auf Dauer.