In den Kellern der Pariser Oper

In den Kellern der Pariser Oper

Mitte der 1980er-Jahre – in den Wiener Musicalhäusern gab man „Das Phantom der Oper“ – hatte ich die Idee, den Originalschauplatz der Story zu fotografieren. Die Direktion der Pariser Oper reagierte verhalten. Mein euphorisch vorgetragener Plan, nicht nur in die Keller vordringen, sondern sie auch noch mit Fackeln beleuchten zu wollen, war dann aber ausreichend absurd, mich zu empfangen und mir den Generalschlüssel zu überlassen.

An diesem Tag führte mich mein Weg von den Schnürböden unter dem Dach bis in die tiefsten Keller. Und obwohl der unterirdische See des Phantoms nichts anderes war als ein Löschwasserbecken: Die Herzkammer tief unter einem der berühmtesten Opernhäuser der Welt nach meinen Ideen inszenieren zu dürfen war grandios. Meine flackernden Kerzen haben nicht nur Rußstriche an den Wänden hinterlassen, sondern auch die Leidenschaft entfacht, nach den verborgenen Bildern und Geschichten zu suchen, die in meiner Heimatstadt Wien konserviert sind. Hinter den glänzenden Fassaden lauern die Schatten seltsamer Begebenheiten, wispern tausend Stimmen: Sie warten darauf, entdeckt zu werden.

2019 war ich, Jahrzehnte später, wieder in der Opera Garnier – diesmal allerdings in den goldglänzenden Prunkräumen. Und auch hier seltsame Geschichten. Als ich die Keller mit Fackeln beleuchtete wusste ich nichts vom Feuertod der jungen Ballerina Emma Livry, die Mitte des 19. Jahrhunderts den Ruhm sucht. Mit ihren 20 Jahren steht sie am Beginn einer aufregenden Karriere, ihre majestätische Interpretation von „La Sylphide“ macht sie berühmt. Bei ihren Auftritten will sie dem Rampenlicht näher sein als alle anderen – am 15. November 1862 fängt ihr Kostüm am Gaslicht Feuer. Ein letztes Mal richten sich alle Blicke auf sie, als lebende Fackel läuft sie noch drei Mal durch die Kulisse. Von den Verletzungen erholt sie sich nicht mehr; mit ihr sinkt auch das „romantische Ballett“ mit all seiner Sinnlichkeit, Magie und Exotik ins Grab, Emma Livry war die letzte Ballerina dieser Ära.

Gabcikovo

Gabcikovo

Bei einer Motorradfahrt Anfang der 1990er-Jahre finde ich mich hinter Bratislava in einer Landschaft wieder, die nur aus Horizont besteht. Es ist die Baustelle eines gigantischen Donaukraftwerks, verlassen nach dem Zusammenbruch der kommunistischen Ordnung in Osteuropa. Ich befahre das weite Staubecken mit meinem Motorrad; schalte ich die Zündung aus, ist es absolut still, die Luft flirrt über den Betonflächen, ein vergessenes Autowrack riecht nach Teer und Diesel. Die Großbaustelle des Krafthauses ist völlig verlassen, die Absperrungen so rostig wie die Kräne. Nicht einmal Vögel sind zu hören: Ein künstliches Death Valley, wo einmal Wasser gestaut wird. Vor der Rückfahrt mache ich auf der Dammkrone nochmals Rast. In der Ferne erscheinen zwei schwarze Punkte, nach gut zehn Minuten erreichen mich Spaziergängerinnen, mit denen ich nicht gerechnet hätte. Sie grüßen freundlich auf Tschechisch, außer einem erstaunten „Ahoj“ fällt mir zu dem absurden Bild keine Antwort ein.

Ewige Gegenwart

Ewige Gegenwart

„Ich bin hier wie ein Soldat, der auf eine Ablöse wartet, die nie kommt“: die Stimme von Frau Jentsch ist fast feenhaft zart, wenn sie im Film „Aus der Zeit“ über ihre Arbeit spricht. Sie hat unter einem Patriarchen gedient, Herr Jentsch war ein kraftvoller Mann, hat über seine Weltreisen Bücher geschrieben. Seine liebsten Koffer waren aber leer: sie standen in seinem Lederwarengeschäft in der Kaiserstraße zum Verkauf, das seit 1874 existiert.

Harald Friedl hat das Geschäft 2006 portraitiert, in den langen, ruhigen Einstellungen entfaltet sich die kleine Welt, die Ersatz für die große wurde. „Wenn ich hier bin, habe ich das Gefühl, das Geschäft hat nie begonnen und hört nie auf – man arbeitet hier in Muße, man ist in der Hand der Zeit, und die hält irgendwie den Kurs. Das Geschäft selber ist die Zeit, sie ist hier anders, stabiler als an anderen Orten.“

Tatsächlich konnte Frau Jentsch vor einigen Jahren abrüsten; auch wenn das Geschäft „nie aufhört“, verließ Herr Jentsch die Kommandobrücke, und sein Sohn übernahm. Benedikt Jentsch ist hauptberuflich Architekt, seine Arbeit ist nun das Fundament für die Fortsetzung der ewigen Gegenwart; zusammen mit seiner Frau, die während seines Broterwerbs die Stellung hält ist (das Geschäft trägt sich derzeit nicht selbst), will er weiterhin versuchen, diese Lücke in der Zeit geöffnet zu halten.

Während ich in der Stille der Werkstatt fotografiere, denke ich an das Schild des verschwundenen Treibriemenherstellers im Raimundhof, das mich immer fasziniert hat: „In wenigen Minuten endlos“ – ich konnte es damals nicht retten, aber hier, in dieser Kapelle für die Ewigkeit, sollte es an der Wand hängen, statt dem Kruzifix.