Budapest: The Gresham Palace

Budapest: The Gresham Palace

Budapest, Gresham Palace um 1990: ein Haus am Ende aller Zeit. Die Fassade ragt unvermittelt in die Höhe wie eine brüchige Felswand, in deren Klüften sogar die Zeit zerschellt. Am Hauptkamm des Gebirges sitzen Türme wie Burgen, die das Geheimnis von Verfall und Beharrung bewachen. Wie ein böses Maul wartet der Torbogen auf mutige Besucher – von innen offenbart das Eisengitter aber wunderschön-romantische, schmiedeeiserne Pfauen. Die Wände der geheimnisvollen Passage dahinter sind schwarz vom Staub vergangener Jahrzehnte, unsichtbare Maschinen dröhnen aus versteckten Höfen, Kellern, Schächten. Mit Herzklopfen betritt man die engen Stiegenhäuser; Verrottung und Verfall, kahle Glühbirnen. Eine Tür führt in einen Hof, und wie eine Erscheinung aus einer anderen Welt glüht plötzlich das farbenprächtige Fensterband über alle Stockwerke. Prachtvollste Glasarbeiten sind dem Verfall entgangen, vollkommen deplatziert beleuchten die Kristalle und farbigen Bleigläser Mülltonnen und Schutt…

Was damals nicht denkbar war und nur knapp gelungen ist: Die Rettung des Palastes. Heute ist er so elegant wie zur Zeit seiner Errichtung, und wer ihn bewohnen will, muss erneut tief in die Tasche greifen: The Gresham Palace wurde zum Luxushotel – und zu einem Wahrzeichen der Stadt an prominenter Lage am Ufer der Donau.

„Jugendstil in Budapest“ ist ein Buch, das ich 2023/2024 fotografiert haben – 30 Jahre, nachdem ich das Thema zum ersten Mal bearbeitet habe:

http://www.mauerspiel.at/jugendstil/

Das erste kapitalistische Weihnachtsfest

Das erste kapitalistische Weihnachtsfest

Vor 35 Jahren, im Dezember 1989, beschließt Österreich unter dem Eindruck der Berliner Maueröffnung, die Visapflicht für tschechoslovakische Staatsbürger aufzugeben (die kommunistische Führung war am 25.11. zurückgetreten). Ein unglaublicher Strom von Einkaufstouristen ergießt sich nach Wien. Die Mariahilfer Straße – durch den U-Bahn-Bau längst zur Ramschmeile verkommen – bietet schon länger Billigwaren für ungarische Touristen an und wird von den Wienern scherzhaft Magyarhilferstaße genannt. Wien reagiert, versucht die Auto- und Buskolonnen zu den Messeparkplätzen umzuleiten. Der Mexikoplatz, damals Schmuggelzentrum für Ostwaren über die Donau, wird zum weiteren Treffpunkt, „Pop-Up-Stores“ verkaufen Unmengen von Weissware und Unterhaltungselektronik. Sex-Shops werden ebenso ungläubig bestaunt wie Bankomaten. Zuvor waren Einkaufsfahrten in die andere Richtung beliebt: Österreicher deckten sich zu Spottpreisen in den Supermärkten von Bratislava/Pressburg („Gratislava, Fressburg“) mit Lebensmitteln und Zigaretten ein.

Es ist das erste kapitalistische Weihnachtsfest der uns umgebenden Ostländer – und gleichzeitig der Beginn der enormen Veränderung Wiens von einer grauen Sackgasse am Rand einer vom Eisernen Vorhang umgebenen Westhalbinsel zu einer der lebenswertesten Metropolen Europas; und für einen Moment dachte man, die Welt würde nun zu einem besseren Ort.

https://noe.orf.at/stories/3024413

Kafkas Kulisse am Brüsseler Galgenberg

Kafkas Kulisse am Brüsseler Galgenberg

Das Palastgebirge ragt in den Gewitterhimmel, im Inneren liegt eine umgestülpte Stadt im Halbdunkel: Es ist das größte Gebäude des Historismus, gebaut von einem Architekten, der zuvor, so sagt man, erst eine einzige Säule entworfen hatte: Der Justizpalast in Brüssel.

Eine ganze Serie von Kulissenfassaden wuchert um das Hauptportal, der Zugang zum Recht braucht einen Auftakt in Fortissimo. Dahinter, im Saal der verlorenen Schritte, ist es still. Die Dimensionen sind pathetisch, kippen aber in absurde Lächerlichkeit. Der Raum versickert im Säulenwald, die große Treppe führt nur in den ersten Stock, der Grundriss ist seltsam undurchschaubar.

In einer Wandnische finde ich einen kleinen Lift. Ich fahre ganz nach oben und lande in einem schmalen Zwischenraum mit engen Stahltreppen. Dann: Endlose Gänge, Stille, muffige Büros, verlassene Bibliotheken. Zwangsläufig erscheint das Bild von Kafkas Schloss, hier, in diesem Schattenpalast. Seltsam eng sind die schwer zu findenden Stiegenhäuser; immer wieder Ausblicke aus staubigen Fenstern auf graue Innenhöfe, wie Schimmel umspinnen verfallende Gerüste die Fassaden, sie sind zarter Gegensatz zum robusten Baukörper.

Den Weg zurück zu finden ist schwierig, unauffällige Türen führen zu schmalen Treppen. Weiter unten werden die Korridore wieder prunkvoll, huschen Richter in ihren Roben über den glatten Boden. Am Horizont der Wandelhalle rettende Inseln aus warmem Licht, Tische, Bänke. Ein Student sitzt hier und lernt, dutzende Meter weiter spricht ein Anwalt mit seinem Klienten. Wie betäubt verlasse ich das monströse Bauwerk, das von außen noch sinnloser massiv wirkt. Aus den Simsen wachsen Bäume; die Erhaltung ist eine vom kleinen Belgien nicht zu schulternde Bürde.

Hier hat Joseph Poelaert die Idee verwirklicht, von der 80 Jahre später Albert Speer träumte: eine einschüchternde Ruine zu bauen. Aber immerhin war der Palast auch Inspiration für echte Künstler: Das Duo Schuiten/Peeters begann mit diesem Gebäude die aufregende Geschichte der „Cités obscures“, wunderbar gezeichnete Bilderbücher aus einer fiktiven Parallelwelt von Stadtstaaten: „Brüsel“, oder „Das Fieber des Stadtplaners“.

Die geplante Renovierung scheint nicht zu bewältigen. Aber wozu auch? Lasst dieses bizarre Schloss, in dem die Märchen nur von Zeugen und Rechtsanwälten erzählt werden, doch einfach verfallen – oder, noch besser: Pflanzt Rosen!

Weitere Fotos: https://www.viennaslide.com/features/Bruxelles-Palaisjustice/
Im Spectrum der Presse habe ich mich dem Thema ausführlicher gewidmet: http://www.mauerspiel.at/texte/2024-11-30-Presse-Spectrum-Schuiten.pdf

In den Kellern der Pariser Oper

In den Kellern der Pariser Oper

Mitte der 1980er-Jahre – in den Wiener Musicalhäusern gab man „Das Phantom der Oper“ – hatte ich die Idee, den Originalschauplatz der Story zu fotografieren. Die Direktion der Pariser Oper reagierte verhalten. Mein euphorisch vorgetragener Plan, nicht nur in die Keller vordringen, sondern sie auch noch mit Fackeln beleuchten zu wollen, war dann aber ausreichend absurd, mich zu empfangen und mir den Generalschlüssel zu überlassen.

An diesem Tag führte mich mein Weg von den Schnürböden unter dem Dach bis in die tiefsten Keller. Und obwohl der unterirdische See des Phantoms nichts anderes war als ein Löschwasserbecken: Die Herzkammer tief unter einem der berühmtesten Opernhäuser der Welt nach meinen Ideen inszenieren zu dürfen war grandios. Meine flackernden Kerzen haben nicht nur Rußstriche an den Wänden hinterlassen, sondern auch die Leidenschaft entfacht, nach den verborgenen Bildern und Geschichten zu suchen, die in meiner Heimatstadt Wien konserviert sind. Hinter den glänzenden Fassaden lauern die Schatten seltsamer Begebenheiten, wispern tausend Stimmen: Sie warten darauf, entdeckt zu werden.

2019 war ich, Jahrzehnte später, wieder in der Opera Garnier – diesmal allerdings in den goldglänzenden Prunkräumen. Und auch hier seltsame Geschichten. Als ich die Keller mit Fackeln beleuchtete wusste ich nichts vom Feuertod der jungen Ballerina Emma Livry, die Mitte des 19. Jahrhunderts den Ruhm sucht. Mit ihren 20 Jahren steht sie am Beginn einer aufregenden Karriere, ihre majestätische Interpretation von „La Sylphide“ macht sie berühmt. Bei ihren Auftritten will sie dem Rampenlicht näher sein als alle anderen – am 15. November 1862 fängt ihr Kostüm am Gaslicht Feuer. Ein letztes Mal richten sich alle Blicke auf sie, als lebende Fackel läuft sie noch drei Mal durch die Kulisse. Von den Verletzungen erholt sie sich nicht mehr; mit ihr sinkt auch das „romantische Ballett“ mit all seiner Sinnlichkeit, Magie und Exotik ins Grab, Emma Livry war die letzte Ballerina dieser Ära.

Gabcikovo

Gabcikovo

Bei einer Motorradfahrt Anfang der 1990er-Jahre finde ich mich hinter Bratislava in einer Landschaft wieder, die nur aus Horizont besteht. Es ist die Baustelle eines gigantischen Donaukraftwerks, verlassen nach dem Zusammenbruch der kommunistischen Ordnung in Osteuropa. Ich befahre das weite Staubecken mit meinem Motorrad; schalte ich die Zündung aus, ist es absolut still, die Luft flirrt über den Betonflächen, ein vergessenes Autowrack riecht nach Teer und Diesel. Die Großbaustelle des Krafthauses ist völlig verlassen, die Absperrungen so rostig wie die Kräne. Nicht einmal Vögel sind zu hören: Ein künstliches Death Valley, wo einmal Wasser gestaut wird. Vor der Rückfahrt mache ich auf der Dammkrone nochmals Rast. In der Ferne erscheinen zwei schwarze Punkte, nach gut zehn Minuten erreichen mich Spaziergängerinnen, mit denen ich nicht gerechnet hätte. Sie grüßen freundlich auf Tschechisch, außer einem erstaunten „Ahoj“ fällt mir zu dem absurden Bild keine Antwort ein.

Ewige Gegenwart

Ewige Gegenwart

„Ich bin hier wie ein Soldat, der auf eine Ablöse wartet, die nie kommt“: die Stimme von Frau Jentsch ist fast feenhaft zart, wenn sie im Film „Aus der Zeit“ über ihre Arbeit spricht. Sie hat unter einem Patriarchen gedient, Herr Jentsch war ein kraftvoller Mann, hat über seine Weltreisen Bücher geschrieben. Seine liebsten Koffer waren aber leer: sie standen in seinem Lederwarengeschäft in der Kaiserstraße zum Verkauf, das seit 1874 existiert.

Harald Friedl hat das Geschäft 2006 portraitiert, in den langen, ruhigen Einstellungen entfaltet sich die kleine Welt, die Ersatz für die große wurde. „Wenn ich hier bin, habe ich das Gefühl, das Geschäft hat nie begonnen und hört nie auf – man arbeitet hier in Muße, man ist in der Hand der Zeit, und die hält irgendwie den Kurs. Das Geschäft selber ist die Zeit, sie ist hier anders, stabiler als an anderen Orten.“

Tatsächlich konnte Frau Jentsch vor einigen Jahren abrüsten; auch wenn das Geschäft „nie aufhört“, verließ Herr Jentsch die Kommandobrücke, und sein Sohn übernahm. Benedikt Jentsch ist hauptberuflich Architekt, seine Arbeit ist nun das Fundament für die Fortsetzung der ewigen Gegenwart; zusammen mit seiner Frau, die während seines Broterwerbs die Stellung hält ist (das Geschäft trägt sich derzeit nicht selbst), will er weiterhin versuchen, diese Lücke in der Zeit geöffnet zu halten.

Während ich in der Stille der Werkstatt fotografiere, denke ich an das Schild des verschwundenen Treibriemenherstellers im Raimundhof, das mich immer fasziniert hat: „In wenigen Minuten endlos“ – ich konnte es damals nicht retten, aber hier, in dieser Kapelle für die Ewigkeit, sollte es an der Wand hängen, statt dem Kruzifix.

Stapellauf

Stapellauf

Ein Buch zu schreiben ist wie ein Schiff zu bauen: Hat man endlich die passende Werft in Form des Verlags gefunden, legt man es mit dem Autorenvertrag auf Kiel. Danach kommt die Arbeit der Konstruktion, monatelang werden die Teile zueinander gebracht, werden Ideen kalfatert, werden erste Anekdoten und Informationen zu robustem Tauwerk geflochten, wird unnützes über Bord geworfen. Der Grafiker hisst Zierleisten und Dekorationen wie bunte Wimpel, und die Fotos sind wie Segel, die das Werk kraftvoll antreiben, auf dass es andere Barken hinter sich lässt am Schlachtfeld des umkämpften Buchmarkts. Endlich ist das Schiff ausreichend robust, um vom Stapel gelassen zu werden; das signieren der ersten Belege fühlt sich an wie die Schiffstaufe. Dann ist das Büchlein aber auf sich allein gestellt in der Weite der Leserschaft, der man keine unklare Formulierung von hinten über die Schulter erklären kann: Der Autor kann nur vom fernen Ufer gute Fahrt wünschen.

https://www.mauerspiel.at/jugendstil

https://www.kral-verlag.at/item/Jugendstil_in_Budapest/Harald_A_Jahn/71341947

Wie ich im Archiv der Pravda stöberte und mit dem Direktor vom Bolschoi-Theater Risipisi aß

Wie ich im Archiv der Pravda stöberte und mit dem Direktor vom Bolschoi-Theater Risipisi aß

Es war 1992, als es mich mit einer Künstlerdelegation nach Moskau verschlug – das klingt jetzt wichtiger als es war, ein Unternehmer wollte Businesskontakte knüpfen und trommelte in Wien Künstlerchens aller Richtungen zusammen, um offizielle Verbindungen (Österreichische Botschaft etc.) anzuzapfen.  So war ich wohl der erste Wiener Fotograf, der nächtliche Straßenszenen aus Wien und Paris bei einer Vernissage in Moskau zeigte, aber das ist jetzt nicht das Thema.

Jeder unserer Truppe durfte sich etwa aussuchen; unser Theatermann wollte Kontakt zum ersten Haus am Platze, und ich dachte mir, wär‘ doch cool, an einer Redaktionssitzung der Pravda teilzunehmen. Und tatsächlich – unsere Wünsche wurden erfüllt, mit einem kleinen Umweg allerdings: Wir trafen uns in einem Konferenzzentrum, und nach kurzer Wartezeit kamen zwei Herren herein, gut gekleidet, und mit einem Akzent, den man aus James-Bond-Filmen kennt, eröffneten Sie uns: „Wir können ihnen mit allem helfen, sagen sie nur, was sie brauchen – Raketen, Maschinengewehre, Granaten…“ Ich nehme an, aufgrund unserer offen stehender Münder und unserer wenig formellen Kleidung erkannten sie, dass sie hier falsch waren. Kurzer Wortwechsel auf Russisch, dann „entschuldigen sie, wir haben uns im Zimmer geirrt“, und weg waren sie. Fünf Minuten später kam dann unser tatsächlicher Betreuer, und uns war ein wenig komisch.

Moskau, Prawda 1992, Depot für die Geschenke an die Prawda

Und wirklich: man ermöglichte mir, im Bürohaus der Pravda herumzustreunen. Die Sovjetunion war gerade zusammengebrochen, die Parteizeitung hatte bei der Bevölkerung nicht den besten Ruf, und das einst stolze Flaggschiff hatte starke Schlagseite: In den Gängen fielen mir ständig Menschen auf, die schwere Säcke hinter sich herzogen, des Rätsels Lösung: Es gab kein Geld mehr, die Mitarbeiter wurden in Kartoffeln ausbezahlt, 50 Kilo für jeden. Allerdings konnte ich im Fotoarchiv wühlen und dort Originalabzüge der berühmten Sowjetischen Fotografen der 1930er-Jahre sehen – und vieles mehr.

Für unseren Theatermann war ein Treffen mit dem Direktor des Bolschoi-Theaters organisiert worden, es gab jedoch keine offenen Restaurants, auch unser Hotel war wie ausgestorben – so kam er ins größte unserer Zimmer, und nicht mit leeren Händen: Seine Frau hatte ihm Risipisi in Tupperware-Schüsserln mitgegeben, denn es gab in ganz Moskau kaum was zu essen – außer Eiern, Unmengen von hartgekochten Eiern, und die hatten wir inzwischen satt.

Berlin, schon wieder

Berlin, schon wieder

Man wird ja durch wiederholten Aufenthalt Patriot immer neuer Städte und Länder. Berlin ist so ein Ort: hässlich, wild, unbeholfen, skurril, eigenartig – und doch ungeheuer anziehend.

Bis heute ist die Dichte der Geschichte spürbar, und immer wieder frage ich mich, wie es hier vor der Wende war – wie es sich anfühlte, Seite an Seite zu leben mit einer völlig anderen Stadt gleichen Namens, im ummauerten Westteil, in dem man trotzdem freier war als im stasiüberwachten Osten: Zwei Städte zum Preis von keiner.

Heute hat Berlin nichts an Eleganz wie Paris, Wien oder Prag. Berlin ist mehr Idee als Stadt: An der Schönhauser Allee, wo die Hochbahn über Tramway-Schienen und regennassen Asphalt donnert, ist die weltstädtische Urbanität der 1920er greifbar; einige Blocks weiter an der S-Bahn am Prenzlauer Berg reibt sich die Gentrifizierung der 2020er an Feuermauern und Ostblock-Tristesse.

Mitten im Zentrum ragt das graue Nazi-Ministerium über den antifaschistischen Schutzwall der ebenso grauen DDR; am Kottbusser Tor dann Cyberpunk-Endzeitstimmung von 2040, dazwischen bunte Pop-Art an den U-Bahn-Stationen oder abrissgefährdete Reste der Ostmoderne wie am Jahnstadion von 1987 – und irgendwann wird das letzte von Punks besetzte Haus der Stadt unter Denkmalschutz gestellt, wird Kreuzberg zu Montmartre.