Die Haut von Venedig

Die Haut von Venedig

Venedig wirkt auf mich trotz seiner allseits bejubelten, leicht fasslichen Schönheit eigenartig langweilig. Vielleicht, weil einer Stadt ohne Keller das Fundament aus dunklen Geheimnissen fehlt, auf das Wien oder Paris so solide gebaut sind; vielleicht auch, weil die Geschichten aus dem echten, lebendigen Venedig jahrhundertelang herausgebleicht wurden von der Lauge aus neugierigen Besuchern, die elegisch über die verfallende Pracht schwappt.

Für mich wirken die Gasserln wie ständig neu angeordnete Versatzstücke des immer Selben, wie im Buch „Die Mauern von Samaris“ von Schuiten/Peeters. Einerlei – es ist natürlich leicht, tolle Fotos zu schießen, schon ein durchschnittlich begabter Fotograf kann wenig falsch machen. Ich denke an meine allerersten Versuche, Kunst zu machen, „Die Mystik der Oberfläche“ nannte ich die damalige Serie von Zeichnungen. Tatsächlich bedeckt die faltige Haut von Venedig die verschütteten Erinnerungen, die vielleicht doch noch irgendwo zwischen den Ziegeln hängen geblieben sind.

Im Bauch der Burg

Im Bauch der Burg

Im Bauch der Burg: Abseits der plüschigen Logen und des goldenen Stucks herrscht geschäftige Betriebsamkeit, ich treffe auf Handwerker aller Gewerke. Am modernen Schnürboden sirren die Drahtseile, wenn Kulissen verschoben werden. Die Drehbühne bewegt sich fast lautlos, der ganze Bühnenraum ändert sein Volumen, seine Anordnung auf Knopfdruck. Tief unten dann die Requisitenlager, zwischen Shakespeares Richard III. und Goethes Faust liegen keine Welten, sondern nur zwei Regalbretter.

Zuletzt erforsche ich die Lüftungsanlage: Hightech der Gründerzeit. Ein riesiger Lüftungskanal führt vom Volksgarten ins „Haus am Ring“ , die Luft strömt gleichmäßig durch den Zuschauerraum und entweicht an der höchsten Stelle des Daches. Der weithin sichtbare „Blasengel“ dreht sich dort mit dem Wind, und bei der Gelegenheit entdecke ich noch ein skurriles Detail: Hinter den stolzen Figuren der Ringstraßenfassade verbergen sich Umkleidekabinen fürs Sonnenbad der Hausarbeiter!

Auf der Buchmesse

Auf der Buchmesse

In den Sozialen Medien ist mir die Szene der verhinderten Autoren aufgefallen, um die herum sich eine regelrechte Industrie gebildet hat – in Schreibworkshops, Kursen und Coachings bestärken sie sich so lange, bis sie im Eigenverlag (also auf eigene Kosten) ihr Buch auf einen nicht vorhandenen Markt bringen. Die Buchmesse ist dann der Garten voller hochhängender Trauben, so nah kommt man den Profis sonst nirgendwo, und wenn man am Stand von Suhrkamp ein Büchlein ersteht, hat man das Gefühl, direkt aus der Quelle getrunken zu haben.

Selbst schreibe ich zwar recht viel, fühle mich aber nicht direkt als Autor. Ich empfinde Schreiben mehr Notwendigkeit und Handwerk denn als große Kunst – wenn es etwas zu sagen gibt finden sich die Worte von selbst, l’art pour l’art liegt mir nicht so.

Von einem meiner Verlage wurde ich zu Propagandazwecken auf die Buchmesse befohlen. Ich fühle dann, doch irgendwie dabei zu sein, schon die Möglichkeit, seine Jacke im Messestand des Verlages verstauen zu dürfen schafft ein Gefühl der Gildezugehörigkeit – auch wenn die Signierstunde zur Resignierstunde wird, weil doch keiner das Buch kaufen möchte.

Neben den Platzhirschen gibt es eine seltsame Gruppe von Spezialverlagen, hier wähnt man sich auf der Esoterikmesse, hat die Ahmadiyya Muslim Jamaat ihre Koje neben dem Christlichen Gesundheitswerk, nur getrennt durch „Happy Science“ (mit Wissenschaft haben die lächelnden Asiaten aber wohl wenig zu tun). Hier steht die Drückerkolonne wie vor einer venezianischen Pizzeria und zieht die Messebesucher in Gespräche – die meisten nehmen deshalb lieber die nächste Gasse. Auch sonst Skurrilitäten: „Fleisch“, eigentlich ein Gesellschaftsmagazin, erhielt den Stand zwischen Kochbox und Espressomobil, offensichtlich in Verkennung des Themas.

Will man zum Ausgang, muss man erst durch die Halle von Thalia – ähnlich wie ein Museumsshop, hier werden die in Stimmung gekommenen Autoren nochmal gemolken und mit dem konfrontiert, was sie nie erreichen werden: Bücher, die auch tatsächlich verkauft werden.

Weltmännertag

Weltmännertag

Ich hatte mal eine Umsatzsteuerprüfung, die Beamtin – ich verstand mich gut mit ihr – hat sich auch meine Kleinbeträge genau angesehen und stieß dabei auf eine Rechnung über 200 Kondome. Ich hatte vorher die eigenartigsten Ausgaben souverän erklärt (als Dekorateur und Fotograf braucht man die absurdesten Dinge); nun meinte ich mit schmierigem Grinsen: „Sie wissen doch, was man über Fotografen und Models so sagt – das gehört praktisch zum Beruf und ist daher eine Betriebsausgabe“. Sie schnappte nach Luft, aber kurz vor der Ohnmacht habe ich ihr dann doch die Agenturfotos gezeigt, die mit diesem Rohmaterial entstanden.

Die Kathedralen des Abschieds

Die Kathedralen des Abschieds

Europas Abschiedskathedralen strahlen wie vor hundert Jahren, und wie damals quirlen die Menschenmassen durch die Glashallen, auch wenn das Stampfen der Dampfmaschinen vom Heulen der Elektroloks abgelöst wurde: Heute treffen moderne Superzüge auf klassische Architektur der großen Zeit der Eisenbahn. Immer noch allgegenwärtig ist die Bahnhofsuhr, sie kennt keine Standesdünkel, ihrem eisernen Regime unterwerfen sich Businesspeople und Interrailhippies ebenso wie die Familie am Ausflug zur Oma.

Weitere Fotos: https://www.viennaslide.com/p/7700-traffic/Abschiedskathedralen/

Denkmäler der Bequemlichkeit

Denkmäler der Bequemlichkeit

Im hügeligen Lissabon fahren die kleinen Straßenbahnen wie Tobbogans durch die Gassen der Alfama, und wo es ihnen zu steil wird, helfen die Elevadores: uralte Standseilbahnen, die durch tief eingeschnittene Schluchten von Altstadthäusern nach unten sinken. Die Reise ist kurz, erfolgt aber ohne Hast; vor allem nachts ist das Bild magisch, wenn das Licht aus den Waggons über die Fassaden huscht, während außer leisem rumpeln wenig zu hören ist – der Motor summt diskret, ein wenig quietschen in einer Kurve, das Sicherheitsseil zwischen den beiden Wagen schabbelt ein wenig in der Stahlrille. Im Licht der Laternen laufen die Schienen wie Bäche aus Quecksilber in die dunkle Nacht.

Als Freund historischer Technik erinnern mich derartige Bahnen an eine Vergangenheit ohne Hektik; bei meinem Besuch 2001 hatten die Maschinisten immer genug Zeit, zwischen zwei Fahrten in aller Ruhe den selbstgegrillten Steckerlfisch zu genießen. So kurz die Fahrt war, so selten fand sie statt, aber in Europas romantischem Westen ist vieles anders organisiert als in den auf Effizienz gepolten Städten unserer Gegend.

Nun geschah die Katastrophe: Beim berühmtesten Elevador riss das Seil, die Bremsen versagten, der über hundert Jahre alte Wagen raste den Abhang hinunter und schlug in ein Haus ein – das Fahrzeug zerfiel laut Augenzeugen wie ein Pappkarton, etwa 17 Menschen starben. Nun stehen die Elevadores still; ob diese Denkmäler der Bequemlichkeit ihre geruhsamen Fahrten nach der Tragödie wieder aufnehmen werden ist ungewiss.

Weitere Fotos und Videos: https://www.tramway.at/lissabon/elevadores.html

Wien, Gasometer vor Umbau

Schön Leer

Ein Sommertag, ich bin in den späten 1990ern mit dem Rad unterwegs, komme an den Gasometern in Wien Simmering vorbei. Die Gegend ist ein seltsames Niemandsland am Rand der Stadt: Industrieruinen, Gärtnereien, ein einsames Wirtshaus, Bahngleise, ein alter Gemeindebau. Die Umwidmung steht bevor, bald werden Wohnbauten das Bild bestimmen. Die alten Gasometer sind ikonische Sehenswürdigkeiten im Osten der Stadt, sie sollen mit Wohnbauten gefüllt werden, noch ist davon nichts zu sehen. Zu meiner großen Überraschung sehe ich ein Tor offen stehen. Ungehindert betrete ich den riesigen Hohlraum – und bin überwältigt.

Ich war zwar schon früher bei Veranstaltungen hier, aber noch nie war ich in so einem großen Raum völlig alleine. Die Dimension ist gar nicht recht fassbar, es gibt keine vertrauten Objekte, an denen man sie messen könnte. Fast ehrfürchtig stehe ich in der Mitte des gewölbten Bodens. Eine unendlich lange Treppe führt in den Dachbereich, ich erkenne, dass diese Gelegenheit nie wieder kommt. Ewig steige ich nach oben, fühle mich wie eine Fliege an der Zimmerwand. Der Umgang unter der Dachkuppel ist eine schmale Eisenkonstruktion, das Geländer ein zarter Handlauf. Eine Leiter führt darüber hinweg zu einer Dachluke, und ich überwinde meine Höhenangst für einen Moment, steige nach draußen – und habe den Eindruck, auf einem Zwergplaneten zu stehen, so mächtig wölbt sich die Kuppel vor mir.

Mussolinis Weltausstellung

Mussolinis Weltausstellung

Halb geschäftlich verschlug es mich zwei Tage nach Rom, Sightseeing-Programm hatte ich keines, allerdings Bilder eigenartiger Prestigebauten am Stadtrand in Erinnerung. Und tatsächlich: Es sind Reste einer faschistischen Weltausstellung, die nie eröffnet wurde – heute ist das Stadtviertel das Wirtschaftszentrum von Rom, hat einen guten Ruf und ist auch als Wohngegend beliebt.

An Mussolinis Gegenwart stört sich kaum wer, im Cafe plaudere ich mit einem Römer: „Das ist Teil der Geschichte, nicht erfreulich, aber gehört zu Italien. Wie ist das übrigens mit dem Geschlecht der Habsburger, das in Wien allen Touristen präsentiert wird? Zimperlich waren die auch nicht gerade…“

Auch nicht ganz falsch, und hier, im martialischen EUR-Viertel, ist inzwischen Gras über die dunkle Vergangenheit gewachsen. Die Bronzestatue „Genius des Faschismus“ wurde mit paar Bändern zum „Genius des Sports“ umdekoriert, und dass Mussolini in aller Herrlichkeit ein riesiges Relief dominiert stört auch niemand mehr. Das „Quadratische Kolosseum“, der zentrale Symbolbau und einst„Palast der Italienischen Zivilisation“, wurde ganz banal an eine Modefirma vermietet. Eine Influenzerin irrt zwischen den Arkaden herum, hat sich vom Markennamen Glamour erwartet, findet aber nur banale Flipcharts hinter den Fenstern. Drückend liegt die Hitze über dem surrealen Stadtviertel, und ein dunkelhäutiger Arbeiter zupft schwitzend das Unkraut aus den Stiegen – auch achtzig Jahre nach dem Ende des faschistischen Regimes scheinen die Rollen hier klar verteilt.

Für das Spectrum der Presse habe ich einen kleinen Artikel zum EUR-Viertel verfasst:
http://www.mauerspiel.at/texte/2025-07-26-Presse-Spectrum-Roma-EUR.pdf

„We choose to go to the Moon“

„We choose to go to the Moon“

Es war eine von Präsident Kennedys mitreißenden Reden, 1962, nur 35 Jahre nach dem ersten Nonstop-Flug Charles Lindberghs von New York nach Paris:

„We set sail on this new sea because there is new knowledge to be gained, and new rights to be won, and they must be won and used for the progress of all people.“ – damals war Amerika der strahlende Leuchtturm des Fortschritts im Dunkel der europäischen Nachkriegszeit, und es gab nur ein einziges Ziel: die Zukunft.

„We choose to go to the Moon in this decade and do the other things, not because they are easy, but because they are hard“: dieser Mut, dieser Erfindungsreichtum, dieser Zukunftsglaube hat die westliche Welt damals beflügelt.

„For the eyes of the world now look into space, to the moon and to the planets beyond, and we have vowed that we shall not see it governed by a hostile flag of conquest, but by a banner of freedom and peace“. Und tatsächlich, nur sieben Jahre später gelang der größte technologische Triumph der freien Welt. Noch wichtiger als die Fußabdrücke in Mondstaub ist aber ein Foto: die Erde in ihrer ganzen zarten Schönheit über dem trostlos-kalten Mondhorizont. Man steigt auf Berge, um ins Tal zurück zu sehen – die Astronauten haben das Weltall bereist und die Erde gefunden. Und so ist dieses Bild für mich persönlich viel eindrucksvoller, viel berührender als irgendwelche mitgebrachten Mondsteine:

Es ist unsere Heimat, wunderschön und verletzlich.

Wir sollten besser auf sie aufpassen.

Ein weiter Kelch für die Kultur

Ein weiter Kelch für die Kultur

Es war einer der typischen Zufälle, die eine ganze Kette von inspirierenden Begegnungen auslösen: 2023 sah ich beim Preview der Architekturbiennale in Venedig im ungarischen Pavillon das Modell eines aufregenden Gebäudes. Ich sprach die Pressedame an, und sie meinte, „kommen sie in zwei Stunden wieder, dann wird der Architekt da sein!“. Und natürlich war ich zwei Stunden später da, sprach mit dem Museumsdirektor und dem Architekten Marcel Ferencz – und wurde nach Budapest eingeladen, um das Projekt im Original zu sehen.

Und ich war bezaubert: Der 52jährige Architekt hat mit dem neuen Ethnografischen Museum ein glitzerndes Kunstwerk an den Rand des Budapester Stadtwäldchens gesetzt, das wirkt, als wäre ein Stück der Saturnringe auf die Erde gestürzt.

Es ist der spektakulärste Neubau seit Jahrzehnten. Seit 1956 steht hier das Denkmal für den Ungarnaufstand, es durfte nicht angetastet werden. Während die anderen Wettbewerbsteilnehmer das Denkmal eingerahmt oder überbrückt haben, hat Ferencz sein Museum in den Boden gedrückt: Als Segment eines gedachten Kreises mit einem Kilometer Durchmesser, der in der Mitte unter das Denkmal taucht und an den beiden Enden aus dem Boden steigt. Ein weit geöffneter Kelch für die Kultur, das war die erste Assoziation der Jury, und im Vertrauen erzählt man, dass der Entwurf sofort Favorit war. 300 Meter ist dieses Segment lang, trotzdem ist das Gebäude diskret: Die Dachfläche wurde zum Garten, das Mittelstück ist ein gepflasterter Platz, die beiden aufsteigenden Gebäudeteile bilden ein grünes Portal in den Park, das Denkmal ist unbeeinträchtigt.

Die senkrechten Fassaden der Baukörper erhielten eine Verkleidung aus Aluminiumgittern, in deren Öffnungen kleine Aluwürfel gesteckt sind: Sie bilden abstrahierte volkstümliche Muster nach, inspiriert von je 20 ungarischen und internationalen Vorlagen; angeordnet sind sie auf acht parallelen Bändern, die den Bodenschichten entsprechen, die bei der Bauvorbereitung erbohrt wurden. Auch die Bepflanzung des Dachgartens ist kein Zufall: Sie entspricht der Vegetation, die hier früher, vor der Kultivierung zum Stadtpark, vorherrschend war – und so riecht es hier nach Wiese, nach Lavendel und Thymian.

Mit dieser Reise, mit dieser Führung durch das Projekt habe ich meine Verbindung zu Budapest wiederentdeckt. In den 1990er-Jahren habe ich ein Buch fotografiert: „Jugendstil in Budapest“ hieß es, ein schlankes Bändchen voller schlechter Fotos und holpriger Texte. An diesem Tag beschloss ich, es nochmals zu machen, und diesmal besser – nur ein Jahr später konnte ich das fertige Buch als kleines Dankeschön an Marcel Ferencz senden.

Längerer Artikel: http://www.mauerspiel.at/texte/2023-08-26-Presse-Spectrum-Varosliget.pdf
Jugendstil in Budapest: http://www.mauerspiel.at/jugendstil/