Wien, Geiereckstraße, Wohnhäuser an der Südosttangente,

Das Haus an der Straße

„Hier war mal der Schrebergarten meiner Eltern!“, schreit mir mein Kumpel von hinten ins Ohr, während ich mein Motorrad über die berüchtigste Autobahn der Stadt treibe. Gürtel, St.Marx, Simmering, Kaisermühlen – von den allseits geläufigen Stadtvierteln bleiben nur blaue Schilder, einige anonyme Neubauten lugen über die Schallschutzmauer. Szenenwechsel. Einer der unzähligen banalen Gemeindebauten der 1950er; es riecht nach Kohl und Curry und Essen aus aller Herren Länder, im Stiegenhaus ein Rollator, ein Kinderfahrrad, vor mancher Wohnungstüre Schuhe. Das Haus ist abgewohnt, und doch ist etwas anders: Die Geräuschkulisse. Die Tangente ist allgegenwärtig, je nach Ausrichtung der Fenster in unterschiedlicher Präsenz.

Wohnen am Ground Zero des Stadtverkehrs

Samstag Nachmittag, fast alle sind zu Hause, nicht alle antworten auf mein Klopfen. Endlich öffnet ein massiger Mann und zeigt mir seine Aussicht: „Jo wos soll mochan, mussen auch olle orbaiten, konn ma nix sogn, ich wor auch immer auf Baustelle, oba mussen alle foahrn in Orbait, nix sich aufregen, mocht ned bessa, is haaß, oba um hundert Oiro billiga ols hinten, und waastas eh, is vü Göd, hundert Oiro jedes Monat“.

Auch in den anderen Wohnungen sind es Menschen, die in ihrem harten Arbeitsleben keine Zeit hatten für die Sprache, es sind die Kinder, die übersetzen. Die einzelnen Lebensgeschichten bleiben daher diffus, wobei die Schicksale – irgendwann nach Österreich, schlecht bezahlter Job zum Überleben, endlich eine Wohnung, die Kinder sollen es besser haben – sowieso überschaubar sind. Hauptthema bei jedem Besuch ist aber das unentrinnbare Brachialorchster des Verkehrs, mit dem man sich irgendwie abfindet – und jedes Stockwerk hat seine eigenen Arrangements, je nach Höhe und Bauart der Lärmschutzwand.

Auf Straßenniveau dann der Ground Zero der Hässlichkeit, mit Behübschungsversuchen hat man sich nicht aufgehalten, der Raum unter dem riesigen Betonbrett ist selbstreferenziell: Autos parken hier, und Straßenbaumaterial wird gelagert. Von oben beständiges dumpfes Rauschen, akzentuiert durch metallische Schläge, wenn ein LKW über eine Dehnfuge fährt. Am Boden Spuren prekärer Lebenskonzepte: Schnapsfläschchen im Miniaturformat von der Billa-Kassa, Bierdosen, Kaffee-Pappbecher. Zentrum des Viertels ist die Straßenbahnstation, sie ist nagelneu, aber gebaut ohne jeden Willen zur Gestaltung: Hier ist alles hässlich, und trotzdem passt nichts zusammen. Bei einer Klientele ist die Lage trotzdem begehrt: Bei den Firmen, die ihre Logos in riesigen Leuchtbuchstaben auf die Dächer der Häuser schrauben, sie liefern damit die Lichtorgel für die Dauerbeschallung der Anwohner.

Wien, Geiereckstraße, Wohnhäuser an der Südosttangente, Autobahn A23

Fotos: https://www.viennaslide.com/features/Wien-SO-Tangente/

Lienz

Lienz

Ein Fotoauftrag für einen Autobushersteller führte mich am Samstag nach Lienz in Osttirol, und so kam es, dass ich mit einem Buszug einen Ausflug auf die Bergstraßen rund ums Mölltal machte. Tirol ist ja was eigenes – es sind robuste Menschen dort, die „aussefoarn“, wenn sie auf Reisen gehen, mit dir per du sind („woha kimmschd’n lei‘?“) und eine Sprache pflegen, die weniger aus Dialogen, vielmehr aus Feststellungen ohne Widerspruchsmöglichkeit besteht. Die Vokale werden dabei ausgeschmiert wie ein Reindl mit Kässpätzle, und die vielen weichen SCH sind das Fett, auf dem die Sätze daher rutschen.

Dann hatte ich noch ein wenig Zeit für Lienz, und was soll ich sagen – prachtvoller hat sich noch kaum ein Herbst von mir verabschiedet. Dis Stadt ist angenehm belebt, der Hauptplatz voll mit Menschen im T-Shirt, in den Gastgärten alle Tische besetzt. Überall merkt man, dass hier das Geld herkommt, das dann in Wien veruntreut wird – in den Cafes ist das letzte Abstellkammerl neben dem Klo im Keller massiv mit Marmor und Granit verfliest, die Türblätter schwer, die Möbel teuer.

Wohnen mit Napoleons Familie

Wohnen mit Napoleons Familie

Wo man in Paris so landen kann – in einem uralten Haus neben dem Jardin des Plantes nämlich, gebaut vom Urgroßirgendwas der 84jährigen Eigentümerin, deren Urgroßirgendwas die Exfrau von Napoleon war; Ihr Großvater hat mit Madame Curie hier gearbeitet, und irgendwas mit dem Jardin des Plantes zu tun gehabt. Auf die Philipp-Starck-Stühle angesprochen meinte sie, sie hat früher in einem Le-Corbusier-Haus gewohnt, der ein Freund der mütterlichen Familie war; da waren alle ganz auf modernes Design gepolt. Sie war dann recht sauer, in diese alte Bude ziehen zu müssen, die von der väterlichen Seite kam (der Stammbaum ist vielleicht nicht ganz korrekt wiedergegeben, mein Erinnerungsvermögen hat nicht alle Details verkraftet). Sie hat dann noch weiter erzählt, dass sie als Kind fast das kleine Dubuffet-Bild (auch ein Freund… etc.) übermalt hätte, das im Wohnzimmer hing; und dass sie immer so gelacht hat, weil ihre Urgroßirgendwasdings im Louvre auf dem Bild neben Napoleon so verkniffen dreinschaut, weniger weil sie eine Krätzn war, sondern weil sie so schlechte Zähne gehabt hat.

Und so Sachen halt.

Leider kann das Zimmer nicht mit der großen Vergangenheit mithalten, aber immerhin kann ich mir vom Klo aus Kaffee kochen. Es liegt im ersten Stock, und der geschickte Architekt hat es hinbekommen, es wie ein Kellerstüberl wirken zu lassen. Aber es hat sogar zwei Fenster! Das Raumprogramm (Dusche, WC, Kühlschrank, Waschbecken, Microwelle, Schrank, Klo, Bett, Tisch, Sessel) ist für fast fünf Quadratmeter durchaus ambitioniert, aber Alexandre-Theodore Brogniart (er hat auch die Pariser Börse und den Friedhof Pere-Lachaise gebaut) ist nicht zu Unrecht berühmt geworden. Die Grüfte in Pere-Lachaise wirken allerdings geräumiger als mein Zimmer. Die Familie meiner Gastgeberin ist übrigens auch dort aufbewahrt, und jedes Jahr werden die Gräber der Altvorderen von der Stadt Paris üppig mit Blumen geschmückt. Nicht aber die der Altvorderinnen, was meine Gastgeberin so erzürnt hat, dass die der Frau Hidalgo einen Brief geschrieben hat, weil so gehts ja wirklich nicht, n’est-ce pas?!

Die Reste eines Lebens

Die Reste eines Lebens

Wien, Stephansplatz. Eine Altbauwohnung mit etwa 200 Quadratmetern, seit Jahrzehnten nicht mehr renoviert; eine Zeitkapsel mit den Resten eines langen Lebens. Über den Schichten vergangener Erinnerungen liegen Fragmente einer kurzen Theaterproduktion: um Kafka ging es, um den „Prozess“. Nichts hätte besser gepasst, hier, in der Wohnung eines ehemaligen Rechtsanwalts und seiner Frau. Andenken an Jahrzehnte, persönliche Dokumente, Tagebücher mit Dingen, die man niederschreiben musste, und die doch nach 30 Jahren belanglos sind. In den Rudimenten zu wühlen fühlt sich obszön an: Was vom Leben bleibt sind staubige Notizbücher, zerfallende Urkunden, sentimentale Briefe an die Kinder, so persönlich wie banal. Die Inhalte des aufbewahrten Schriftguts haben sich über die Jahre sowieso geändert: Von Rechtswissenschaft und Medizin zu später ebenso sorgsam gesammelten Strickanleitungen aus Burda-Heften. Die Handlungsfäden eines 90-Jährigen Lebens sind gemeinsam mit denen aus Kafkas Stücken auf Garnspulen gewickelt, und sie werden nie wieder entwirrt.


Am Mittwoch kommen kräftige Jungs, und der Container.

Weitere Bilder: https://www.viennaslide.com/features/Wien-Verlassenschaft

Berlin, Mauerrest am Nordbahnhof

Ich bin ein Berliner

Zwischen „Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten!“ und „Das gilt meines Wissens ab sofort, unverzüglich“ lagen 28 Jahre – und nochmal so viele zwischen dem unglaublichen Jahr 1989 und heute (2017). Wie Dominosteine fielen damals die Grenzen des Ostblocks, eingeleitet vom Paneuropäischen Picknick an der Österreich-Ungarischen Grenze und der Grenzöffnung 50 Kilometer östlich von Wien. In den 28 Jahren, in denen die Mauer stand, verloren fast 2000 Menschen ihr Leben beim Versuch, das eigentlich Selbstverständliche zu erreichen: persönliche Freiheit, Entfaltungsmöglichkeiten, Sicherheit; und dann verschwand der Wahnsinn plötzlich, ohne dass auch nur ein Schuss fiel.

Heute wurde dieser Menschen in Berlin gedacht, am 13. August 1961 begann der Bau der „Schandmauer“. Bis heute ist sie in Berlin an vielen Stellen fühlbar, mal wird das Andenken zelebriert wie in der Bornholmer Straße, mal sind es kurze Abschnitte, die als Einfriedung irgend eines Grundstücks dienen. Heute ist Europa dabei, sich zu verändern, seine Ideale zu verlieren. Anscheinend muss jede Generation alle bisherigen Fehler wiederholen, um zu lernen; als Amerika noch echte Staatsmänner als Präsidenten hatte, sagte John F. Kennedy:

„Vor zweitausend Jahren war der stolzeste Satz ‚Ich bin ein Bürger Roms‘. Heute, in der Welt der Freiheit, ist der stolzeste Satz ‚Ich bin ein Berliner‘.
Alle freien Menschen, wo immer sie leben mögen, sind Bürger Berlins, und deshalb bin ich als freier Mensch stolz darauf, sagen zu können:
‚Ich bin ein Berliner‘!“

Es wird Zeit, dass die Europäer wieder Berliner werden.

https://www.lpb-bw.de/mauerbau.html

https://www.planet-wissen.de/geschichte/persoenlichkeiten/die_kennedys/pwiejohnfkennedysrede100.html

Mussolinis letzte Stadt

Mussolinis letzte Stadt

Im faschistischen Italien kam es zu einigen Stadtneugründungen, vorerst in den Pontinischen Sümpfen südöstlich von Rom – deren Trockenlegung war Teil von Mussolinis Arbeitsbeschaffungsprogramm.

Die erste neue Stadt ist Littoria (heute Latina), ihr folgen noch einige weitere „città nuove“ in der Region: fünf Jahre, fünf Städte, ein großer Propagandaerfolg. 1937 wird ein letztes Musterstädtchen angelegt, symbolhaft für die Zusammenarbeit von Großkapital und Faschismus, eine Modellsiedlung für die Zusammenführung von Industrie und Landwirtschaft: Torviscosa. Schilfrohr wird auf riesigen, geometrisch angeordneten Feldern gepflanzt und in der Fabrik zu Zellulose verarbeitet: Hier wird die Versöhnung von Natur und Industrie gefeiert und von Futuristen als „Potenz der Geometrie“ besungen. Geplant für 5.000 Menschen, bewohnt von knapp 3.000 – die Stadt kann die leeren Grundstücke an den großzügigen Achsen nie füllen; so bleibt die pathetische Prachtstraße mit ihren martialischen Sportlerstatuen vor dem Freibad bis heute ein zu breiter Weg durch einen wilden Park.

Toviscosa wurde unter Benito Mussolini 1938 nach Trockenlegung der umliegenden Sümpfe als Prestigeobjekt mit einer riesigen Zellulose-Fabrik und architektonisch durchdachter Arbeitersiedlung im Sinne großer Autarkiebestrebungen angelegt.

Einige der verfallenden Gebäude wurden zwar anlässlich der 50-Jahr-Feier renoviert, trotzdem erinnern die Arkaden entlang menschenleerer Plätze an die irrationalen Bilder eines Giorgio de Chirico. Torviscosa war eine der letzten von zwölf faschistischen Stadtgründungen und damit das Ende der Idee, die Arbeiter in autarken GartenstadtIdyllen mit Fabrik, Freizeitanlagen, Theater, Sportstätten und Restaurants unterzubringen und damit schlussendlich zu kontrollieren.

Bilder: https://www.viennaslide.com/features/Torviscosa/

Florenz, Kathedrale Santa Maria del Fiore - Florence, Cathedral Santa Maria del Fiore

Italienische Reise

Massiv wachsen die florentiner Bürgerhäuser aus dem Boden, erst weit oben verzärteln sie sich in luftige toscanische Villen mit eleganten Terrassen. Schmal sind die Gassen, die die wuchtigen Fundamente den Menschen gönnen. Dann, plötzlich: Ein Traum aus Licht, aus den schwerdunklen Hausgebirgen steigt zart der Dom mit seiner flirrenden Fassade, die gigantische Kuppel liegt wie eine Blütenknospe über den Dächern aus Terrakotta: das große Wunderwerk der ausklingenden Gotik.

Noch eindringlicher, fast körperlich spürbar aber die Anwesenheit der großen europäischen Genies. Früher als im rohen Norden hat hier das sanfte Licht der Renaissance das Dunkel des Mittelalters vertrieben, und Männer wie Galileo Galilei, Leonardo da Vinci oder Michelangelo Buonarroti haben in Florenz die ersten Schritte in eine neue Zeit gewagt. Im ihm gewidmeten Museum ist Galileo sogar persönlich anwesend: hier bewahrt man seinen Zeigefinger unter einem Glassturz.

Dann Siena: Schon der Name eine Verheißung, er klingt nach Sehnsucht, nach Italien, nach Toscana. In der uralten Metropole öffnen sich die Gassen auf das Wohnzimmer der Stadt: Die Piazza del Campo ist der schönste Platz der Welt und Tribüne für das Rathaus, sein Turm eine Kerze, die bei Sonnenuntergang von unten nach oben abbrennt, bis zuletzt die Turmspitze golden aus dem Schatten glüht.

Siena, Piazza del Campo

Während die Stadt die Wochen zum großen Ereignis zählt, veranstalten die Schwalben zwischen den Fassaden ihren eigenen Palio; ihre Flugkunst und das Leben darunter ist aufregend genug, um stundenlang am selben Ort – einem kleinen Balkon eines Cafés – zu verharren.

Die Häuser hier sind mittelalterlich, die Gassen versickern in den muffigen Häusern, die über den engen Wegen zusammenwachsen in hundert Bögen. Man wohnte nicht großzügig damals, solange es das weltliche Leben betraf – der wahre Luxus war den Häusern Gottes vorbehalten, und hier ist sein Domizil besonders luxuriös. Kaum anderswo wird das für mich so unnachvollziebare Konzept von Religion deutlicher: Das diesseitige Leben ist karg und freudlos, erst im Jenseits geht’s dann so richtig los. Allerdings hat der Glauben die schönsten Kunstwerke hervorgebracht, die die Menschen je geschaffen haben, und der Dom von Siena wäre der Höhepunkt geworden – hätte die Pest als „Strafe Gottes“ nicht die Fertigstellung verhindert: Die Pracht wurde wohl sogar ihm zu viel.

Später in der Nacht morsen die Grillen ihre Geheimbotschaften in die Luft; die Glühwürmchen antworten mit blinkenden Lichtsignalen. Der Salamanderkönig wartet in der Hügeln um Siena auf Regen, bis dahin huscht ein Hofstaat aus hundert Eidechsen über die heißen Steine. Am hohen Horizont sind verfallende Dörfer in den Himmel geklebt: man seufzt „O, wie schön“, und die Zypressen stehen als Rufzeichen in der Landschaft.

Berlin, Brandenburger Tor

Berlin

Berlin also. Lang hab ich mich gedrückt, ich wollt’ ja nie so richtig hin, weil ich mich geärgert habe, diese seltsame, im Meer der Finsternis schwimmende Insel nicht rechtzeitig vor dem Mauerfall angesteuert zu haben.

Aber jetzt: Endlich da.

Und ich war nicht vorbereitet auf die Wucht, mit der die Stadt mit Geschichte aufgeladen ist. Am 9. November 1989 saß ich vor meinen kleinen Schwarzweissfernseher, mit offenem Mund und feuchten Augen. Und heute reichen allein die Namen, um mich zutiefst zu erschüttern: Von Wannsee nach Spandau sind es nur paar S-Bahn-Stationen, das Olympiastadion dazwischen. Brandenburger Tor, Reichstag, Friedrichstraße, Bornholmer Brücke, Bahnhof Zoo ohne Kinder vom, Unter den Linden, Berlin Alexanderplatz. Und da, wo einfach ein paar Pflastersteine den früheren Verlauf der Mauer andeuten, hab ich noch die Stimme einer Frau im Ohr, die etwas zu spät dran war: “Ick will doch nur eenmal im Leben durchs Brandenburger Tor gehn, nich’ mehr!” – und der plötzlich weichgewordene Stasi-Offizier geht mit ihr nach dem Ende der Mauerparty tatsächlich von Osten her durch die Sprrerrzone, das seltsame Paar ist als Schattenriss einsam zwischen den Säulen zu sehen.

Damals hat mein Europa begonnen, und die Liebe hat seither nie mehr nachgelassen.

Reise in die Freiheit

Reise in die Freiheit

Budapest, vor einigen Tagen (Sommer 2015). Der Keleti-Bahnhof (von dem die Züge nach Westeuropa fahren) ist belagert – von Wochenendtouristen, Interrailjugendlichen und Flüchtlingen. Vor dem Bahnhof gibt es nicht nur 35°C, sondern auch eine Betreuungseinrichtung und Wasser, ein schattiger Bereich ist provisorisch etwas abgetrennt. Im Park nebenan waschen die Menschen ihre Leiberln.

Dann, im Zug nach Wien, im bunt gefüllten Speisewagen, zwischen bierseligen Jugendlichen und ungarischen Kellnern nebst meiner Wenigkeit eine Familie, deren Outfit ebenso heraussticht wie die überdeutliche Unsicherheit, mit der sie sich in den Wagen drückt. Ich wundere mich, dass die Familie mit dem Railjet nach Wien reist und gehe nicht davon aus, dass sie das Ziel erreichen wird. Scheu setzt sich der etwa 15jährige Sohn mit seiner kleinen Schwester auf den leeren Sitzplatz, mir gegenüber, nachdem ich ihm deutete Platz zu nehmen; ich lächle ihn an, frage ihn, „english? francais? deutsch?“, die Antwort ist jedesmal ein bedauerndes kopfschütteln. Er ist gut erzogen, das merke ich an seinen Bewegungen und seiner Art; ordentlicher Haarschnitt, paar Pubertätspickel, Bartflaum.

Ich beschließe ihn zum Essen einzuladen, sobald wir unterwegs sind. Soweit kommt es nicht – die Grenzpolizei erscheint, „Passport?“, die Familie wird noch kleiner als sie schon ist; in Kelenföld – dem Budapester Meidling – ist die Fahrt schon wieder zu Ende. So deutlich wie kaum je spüre ich die weit offene Schere zwischen meinem grenzenlosen Europa und dem der Flüchtlinge. Während die traurige Kolonne auf den Bahnsteig bugsiert wird, kommt mein Karottenschaumsüppchen; der junge Mann schaut noch einmal durchs Fenster zu mir herauf, ich hätte es ihm gerne überlassen.

Persönlich tut er mir unendlich leid, gleichzeitig ist mir die Verzweiflung bewusst: ohne Sprachkenntnisse, ohne Pass, ohne Netzwerk und Struktur ein neues Leben in einer völlig fremden Welt zu beginnen scheint chancenlos. Trotzdem verfluche ich unsere Politik: sie scheitert teils absichtlich an der einfachen Aufgabe, paar tausend Menschen unterzubringen, jeder Unternehmer hätte den Job in paar Tagen locker gelöst. Dabei kommt die eigentliche Herausforderung erst: Es werden noch viel mehr folgen, und sie wären (noch) hochmotiviert, sich für ihre neue Heimat einzusetzen. Dieses Momentum nicht zu nutzen ist ein riesiger Schaden für das Land, und ich sehe rabenschwarz, wenn es schon bei den recht einfachen Problemstellungen in Traiskirchen scheitert.

Einmal Güssing und retour

Einmal Güssing und retour

Ich schreibe heute von einem bizarren Ort, es ist ein – luxuriöser – Pendlerbus, weiß und riesig, der mich, Abfahrt 20.15 vom Karlsplatz, in ein südburgenländisches Dorf namens Güssing bringt. Als Pazifist bin ich der richtige, morgen eine neue Kaserne unseres Bundesheeres fotografisch zu dokumentieren (“Wenn Österreich Deutschland den Krieg erklärt, ist das ein Fall für die Freiwillige Feuerwehr von Passau”). Um mich herum Busstammgäste, Pendler, die bis zu 2 1/2 Stunden nach Hause fahren, täglich oder zumindest wöchentlich. Grade haben wir die Grenze von Wien zurückgelassen, es geht durch amerikanisch gestaltete Ausfallstraßen, alles bunt, grüne Ampeln, gelbe McDo-Logos, rote Puffs, drive in, drive through, wohin ist egal. Essen, ficken, weiter. Autowelt. Männerwelt. Laut, aber einfach. Die Motorbienen kommen herangebrummt, befruchten Tankstellen, Baumärkte, leichte Mädchen, und weiter gehts. Es muss weitergehn. Immer weiter. Grad gehts entlang der “Shopping City” weiter, an der „blauen Lagune“ vorbei, der Fertighaus-Ausstellung mitten zwischen Gewerbekisten und Autobahnkringeln, ganz lebensecht ist sie hergerichtet, bezugsfertig, mit Lichtern, Zimmerpflanzen, Möbeln und alles. Ich wette, der Verkaufsleiter sitzt am Klo und kackt, um die Sache endgültig glaubhaft zu machen. Ssssspp- schon wieder vorbei, jetzt Autobahn, Nebel, Business-Park, blaue Schilder.

Ich hab ja kein Auto.

Ortlose Gegend, kurz schnurren wir die Autobahn nach Süden, dann geht’s aber runter, der Monsterbus dringt ein ins flache Land. Wir bleiben an einer Tankstelle im Nebel stehen, eine Umsteigestation, ein Kleinbus wartet auf die armen Tröpfe, die noch nicht zuhause sind. Pendler-Stafettenlauf, ein mir bisher unbekanntes Netzwerk von Abhängigkeiten, übers flache Land geworfen. Ich hingegen fahre direkt und finde immer mehr Gefallen an meinem warmen Aussichtsplatz hinter der großen Scheibe, die mich vom Nebel trennt. Die Stationen heißen Unterschützen Hauptplatz, Pinkafeld Raiffeisenbank oder Oberwart Park&Ride; Unterschiede sind keine zu sehen, bei Nacht sind alle Tankstellen gelb. Am Hauptplatz von Oberschützen gibts allerdings ein „Cafe Miau“, ich komme wieder und kehre ein, versprochen! Aber was zum Teufel ist eine Erlebnistankstelle?

Im Hotel bin ich Protagonist eines Roadmovies, directed by „Dr.Richard Busbetriebe“. Ich wurde von einem weißen Wal an den Strand einer unbekannten Industriezone in Güssicon Valley gespuckt, und während er im Dunkel verschwindet, ziehen Nebelschwaden vorbei an einem Kraftwerk im Neonlicht. Kein Fahrzeug auf der Bundesstraße, und garkeines auf der Industriestraße, in die ich einbiege. Wanderer sind hier selten um die Jahreszeit. Vorbei an dem sirrenden Kraft- und dem verhalten röhrenden Sägewerk geht’s die kleine Straße hinauf, am Ende ein Lichtdom Speer’scher Art, Miniaturflakscheinwerfer bestrahlen den Nebel von unten.

Das Hotel ist leer, meine Schlüsselkarte außen an die Tür geklebt (ob das klappt? war meine Sorge), das Ambiente innen ein scharfer Kontrast zur Unwirklichkeit draußen. Oder auch nicht, es wirkt kulissenhaft, an den Wänden Fotos der schönsten Garage der Umgebung, der Einfachheit halber zeigen alle Bilder dasselbe Motiv. Egal – das Bett ist warm & weich, es ist absolut still, man hört nichts. Mich begleitet ein Buch namens „Zeit aus den Fugen“, der Autor (Philip K. Dick) schrieb auch die Vorlagen zu „Blade Runner“ oder „Minority Report“ – das Buch hat dasselbe Thema wie die „Truman Show“, spiel ich darin plötzlich mit? Ich bekomm ein wenig Angst.

Nächster Tag. Die seltsame Hotelzimmer/Aussicht-Schere offenbart sich. In der Nacht war die Schönheit der Umgebung im schwarzen Nebel verborgen. Der Container hat sich belebt, das Frühstück ist unauffällig, eine für ihr Alter zu schrillbunt gekleidete Frau kommt rein – und dann noch eine, genauso angezogen, da komm ich erst drauf, es ist die Tracht des Personals, irgendein Marketingleiter lässt diese armen burgenländischen Bäuerinnen rumlaufen wie Clowns. Weg von hier. Ich rücke ich in die Kaserne ein.

Am Nachmittag: Rückfahrt, der weiße Wal taucht aus den Wellen der burgenländischen Landschaft auf, nur Käpt’n Ahab ist ein anderer. Mein Platz vorne ist wieder frei, diesmal ist es noch Tag. So ein Ausflug ist ja viel einzigartiger als eine meiner Reisen nach Frankreich: nach Güssing komm ich nie wieder, in das Hotel komm ich nie wieder, auch in die Kaserne: nie wieder. Aber jetzt noch einmal vorbei an ihr, noch einmal um den Kreisverkehr, adieu, du Kraftwerk, das du mich gestern so beruhigend brummend empfingst! Jetzt seh ich erst die Landschaft, wir zweigen dauernd von der Hauptstraße ab, um die Dörfer (Park & Ride, Raiffeisen, Hauptplatz…) abzuklappern, überall steigen Schüler ein und Bauern aus, sie haben eine seltsam bellende Sprache, meine Schwester redet inzwischen auch so, sie lebt in der Region – 8 Jahre Privatgymnasium Sacre Coeur beim Fenster rausgeschmissen, meine Mutter würde leiden.

Die Ansiedlungen: vom modernen Leben vergewaltigte niedere Bauerndörfer, von den echtesten, den ursprünglichsten der Häuser hat man sich abgewandt, sie verfallen; stattdessen hat man die Orte mit den Häusern hochgerüstet, die ich bei der Hinfahrt am Autobahnkreisel der Blauen Lagune sah. Früher waren die Dörfer schmucklos, heute geschmacklos, paniert mit allem was der Baumarkt hergibt. Umgeben sind sie mit Gewerbekisten, die zusammenhanglos in der Landschaft schwimmen, viel zu groß, zu derb, zu bunt. Glücklicherweise kommt wieder Nebel auf.

Der Bus ist voll, die Jugendlichen (Berufsschule für landwirtschaftliche Gewerbe und ähnliches, man studiert selten Philosophie in dieser Region) schnattern. Autobahn, komm! Und da ist sie schon, es ist dunkel inzwischen, über den roten Rücklichtpunkten der Weggenossen schwebe ich nach Wien. Schön wars, eigentlich ein lehrreicher Ausflug; und: fein, mit euch zu reisen.