„Wer schreibt, der bleibt“, artikulierte der nachhaltig erfrischte Literatendarsteller im Cafe Kafka bemüht, bevor sein Kopf schwer auf den Marmortisch aufschlug.
„Kann schon sein – aber wir haben jetzt Sperrstund'“.
Die Nacht wurde unbequem, aber am nächsten Tag hatte er erstmals etwas zu erzählen.
Notiz
Gabcikovo
Bei einer Motorradfahrt Anfang der 1990er-Jahre finde ich mich hinter Bratislava in einer Landschaft wieder, die nur aus Horizont besteht. Es ist die Baustelle eines gigantischen Donaukraftwerks, verlassen nach dem Zusammenbruch der kommunistischen Ordnung in Osteuropa. Ich befahre das weite Staubecken mit meinem Motorrad; schalte ich die Zündung aus, ist es absolut still, die Luft flirrt über den Betonflächen, ein vergessenes Autowrack riecht nach Teer und Diesel. Die Großbaustelle des Krafthauses ist völlig verlassen, die Absperrungen so rostig wie die Kräne. Nicht einmal Vögel sind zu hören: Ein künstliches Death Valley, wo einmal Wasser gestaut wird. Vor der Rückfahrt mache ich auf der Dammkrone nochmals Rast. In der Ferne erscheinen zwei schwarze Punkte, nach gut zehn Minuten erreichen mich Spaziergängerinnen, mit denen ich nicht gerechnet hätte. Sie grüßen freundlich auf Tschechisch, außer einem erstaunten „Ahoj“ fällt mir zu dem absurden Bild keine Antwort ein.
Stapellauf
Ein Buch zu schreiben ist wie ein Schiff zu bauen: Hat man endlich die passende Werft in Form des Verlags gefunden, legt man es mit dem Autorenvertrag auf Kiel. Danach kommt die Arbeit der Konstruktion, monatelang werden die Teile zueinander gebracht, werden Ideen kalfatert, werden erste Anekdoten und Informationen zu robustem Tauwerk geflochten, wird unnützes über Bord geworfen. Der Grafiker hisst Zierleisten und Dekorationen wie bunte Wimpel, und die Fotos sind wie Segel, die das Werk kraftvoll antreiben, auf dass es andere Barken hinter sich lässt am Schlachtfeld des umkämpften Buchmarkts. Endlich ist das Schiff ausreichend robust, um vom Stapel gelassen zu werden; das signieren der ersten Belege fühlt sich an wie die Schiffstaufe. Dann ist das Büchlein aber auf sich allein gestellt in der Weite der Leserschaft, der man keine unklare Formulierung von hinten über die Schulter erklären kann: Der Autor kann nur vom fernen Ufer gute Fahrt wünschen.
https://www.mauerspiel.at/jugendstil
https://www.kral-verlag.at/item/Jugendstil_in_Budapest/Harald_A_Jahn/71341947
Ruf aus der Vergangenheit
Vor einiger Zeit kam ich in der Stadt an einer Goldscheider-Porzellanskulptur von Maria Jeriza vorbei, einer Opernsängerin, die 1910 ihre Karriere an der Volksoper begann. Und das erstaunliche daran: Ich war mit ihrem damaligen Ehemann, Baron Leopold von Popper-Podhragy, bekannt!
Podhragy war eine hochinteressante Persönlichkeit: 1886 in eine äußerst wohlhabende Familie geboren – der Vater verdiente in der Holzindustrie ein Vermögen, lieferte das Bauholz für den Suezkanal, die Mutter, Blanche Marchesi, Opernsängerin – war er geschäftlich höchst erfolgreich. Er war Eigentümer des Bankhauses Herrmann Korti & Co, der Britisch-Österreichischen Bank, der Amerikanisch-Ungarischen Bank und der Hammer & Co. Granitwerke. Grundstücke in Baden und der halbe Wiener Schafberg waren in seinem Besitz; mit Kaiser Karl war er gut bekannt. Um 1920 hat er in St. Corona am Wechsel das letzte Schloss Österreichs erbaut, den Handwerkern gewährte er großzügige Kredite. Ab 1934 unterstützte er die Regierung Dollfuß, bevor er 1939 vor den Nazis nach London flüchtete – von dort aus arbeitete er für den Widerstand. Nach dem Krieg kam er zurück nach Österreich. Das Schloss wird 1983 verkauft, in bescheidenen Verhältnissen stirbt er am 17.1.1986 hundertjährig in Wien: Ein Mensch aus ferner Vergangenheit, in einer ihm fremden Epoche gestrandet.
https://de.wikipedia.org/wiki/Leopold_Popper-Podhragy
https://www.bote-aus-der-buckligen-welt.at/2018/10/baron-popper-podhragy-als-goenner-fuer-st-corona
Alte Bücher und neue Geschichten
Paris: das sind die Schwalben in den Sommergassen, das ist Klaviermusik straßenseitig und Geigenspiel vom Hof, das sind weißblaue Emailschilder, das ist Baguette und Camembert und billiger Rotwein im Parc Montsouris; Paris ist ein flüchtiges fremdes Lächeln aus dem Nebenwaggon der Metro beim Halt in der Station, ist das Plätschern der Bäche, die am Morgen die Straßenränder fluten, Paris sind alte Bücher und neue Geschichten. Paris sind Füße, die nicht so viel gehen können wie die Augen sehen wollen. Paris ist weit an der Seine und eng unterm Dach am Montmartre:
Paris ist das Leben, Paris ist die Liebe, Paris ist die ganze Welt.
Montmartre
Die jungen Mädchen flattern die Stiegen hinunter und duften nach Maiglöckchen; die honorigen Damen sitzen in den Restaurants und riechen vornehm. Die Häuser ragen wie Zähne in den Nachthimmel und tragen Goldplomben aus unbezahlbaren Atelierwohnungen. Die Blüten in den geheimen Gärten impfen die Luft so wie die Melodie, die aus dem Kellertheater sickert, und auf der Straße streiten zwei Katzen, bis der Hund dazwischengeht; ein Mopedfahrer fräst eine tiefe Rille in den lautlosen Sommerabend. Im Café des Deux Moulins spiegelt sich das Neonlicht im Kupfer des Tresens, und sogar die Japanerinnen umflort ein Hauch von Amelie – am Montmartre findet jeder sein Paris: Stille Nächte im Klischee, und trotzdem bezaubernd.
Lienz
Ein Fotoauftrag für einen Autobushersteller führte mich am Samstag nach Lienz in Osttirol, und so kam es, dass ich mit einem Buszug einen Ausflug auf die Bergstraßen rund ums Mölltal machte. Tirol ist ja was eigenes – es sind robuste Menschen dort, die „aussefoarn“, wenn sie auf Reisen gehen, mit dir per du sind („woha kimmschd’n lei‘?“) und eine Sprache pflegen, die weniger aus Dialogen, vielmehr aus Feststellungen ohne Widerspruchsmöglichkeit besteht. Die Vokale werden dabei ausgeschmiert wie ein Reindl mit Kässpätzle, und die vielen weichen SCH sind das Fett, auf dem die Sätze daher rutschen.
Dann hatte ich noch ein wenig Zeit für Lienz, und was soll ich sagen – prachtvoller hat sich noch kaum ein Herbst von mir verabschiedet. Dis Stadt ist angenehm belebt, der Hauptplatz voll mit Menschen im T-Shirt, in den Gastgärten alle Tische besetzt. Überall merkt man, dass hier das Geld herkommt, das dann in Wien veruntreut wird – in den Cafes ist das letzte Abstellkammerl neben dem Klo im Keller massiv mit Marmor und Granit verfliest, die Türblätter schwer, die Möbel teuer.
Die Reste eines Lebens
Wien, Stephansplatz. Eine Altbauwohnung mit etwa 200 Quadratmetern, seit Jahrzehnten nicht mehr renoviert; eine Zeitkapsel mit den Resten eines langen Lebens. Über den Schichten vergangener Erinnerungen liegen Fragmente einer kurzen Theaterproduktion: um Kafka ging es, um den „Prozess“. Nichts hätte besser gepasst, hier, in der Wohnung eines ehemaligen Rechtsanwalts und seiner Frau. Andenken an Jahrzehnte, persönliche Dokumente, Tagebücher mit Dingen, die man niederschreiben musste, und die doch nach 30 Jahren belanglos sind. In den Rudimenten zu wühlen fühlt sich obszön an: Was vom Leben bleibt sind staubige Notizbücher, zerfallende Urkunden, sentimentale Briefe an die Kinder, so persönlich wie banal. Die Inhalte des aufbewahrten Schriftguts haben sich über die Jahre sowieso geändert: Von Rechtswissenschaft und Medizin zu später ebenso sorgsam gesammelten Strickanleitungen aus Burda-Heften. Die Handlungsfäden eines 90-Jährigen Lebens sind gemeinsam mit denen aus Kafkas Stücken auf Garnspulen gewickelt, und sie werden nie wieder entwirrt.
Am Mittwoch kommen kräftige Jungs, und der Container.
Weitere Bilder: https://www.viennaslide.com/features/Wien-Verlassenschaft
Berlin
Berlin also. Lang hab ich mich gedrückt, ich wollt’ ja nie so richtig hin, weil ich mich geärgert habe, diese seltsame, im Meer der Finsternis schwimmende Insel nicht rechtzeitig vor dem Mauerfall angesteuert zu haben.
Aber jetzt: Endlich da.
Und ich war nicht vorbereitet auf die Wucht, mit der die Stadt mit Geschichte aufgeladen ist. Am 9. November 1989 saß ich vor meinen kleinen Schwarzweissfernseher, mit offenem Mund und feuchten Augen. Und heute reichen allein die Namen, um mich zutiefst zu erschüttern: Von Wannsee nach Spandau sind es nur paar S-Bahn-Stationen, das Olympiastadion dazwischen. Brandenburger Tor, Reichstag, Friedrichstraße, Bornholmer Brücke, Bahnhof Zoo ohne Kinder vom, Unter den Linden, Berlin Alexanderplatz. Und da, wo einfach ein paar Pflastersteine den früheren Verlauf der Mauer andeuten, hab ich noch die Stimme einer Frau im Ohr, die etwas zu spät dran war: “Ick will doch nur eenmal im Leben durchs Brandenburger Tor gehn, nich’ mehr!” – und der plötzlich weichgewordene Stasi-Offizier geht mit ihr nach dem Ende der Mauerparty tatsächlich von Osten her durch die Sprrerrzone, das seltsame Paar ist als Schattenriss einsam zwischen den Säulen zu sehen.
Damals hat mein Europa begonnen, und die Liebe hat seither nie mehr nachgelassen.