Berlin, schon wieder

Berlin, schon wieder

Man wird ja durch wiederholten Aufenthalt Patriot immer neuer Städte und Länder. Berlin ist so ein Ort: hässlich, wild, unbeholfen, skurril, eigenartig – und doch ungeheuer anziehend.

Bis heute ist die Dichte der Geschichte spürbar, und immer wieder frage ich mich, wie es hier vor der Wende war – wie es sich anfühlte, Seite an Seite zu leben mit einer völlig anderen Stadt gleichen Namens, im ummauerten Westteil, in dem man trotzdem freier war als im stasiüberwachten Osten: Zwei Städte zum Preis von keiner.

Heute hat Berlin nichts an Eleganz wie Paris, Wien oder Prag. Berlin ist mehr Idee als Stadt: An der Schönhauser Allee, wo die Hochbahn über Tramway-Schienen und regennassen Asphalt donnert, ist die weltstädtische Urbanität der 1920er greifbar; einige Blocks weiter an der S-Bahn am Prenzlauer Berg reibt sich die Gentrifizierung der 2020er an Feuermauern und Ostblock-Tristesse.

Mitten im Zentrum ragt das graue Nazi-Ministerium über den antifaschistischen Schutzwall der ebenso grauen DDR; am Kottbusser Tor dann Cyberpunk-Endzeitstimmung von 2040, dazwischen bunte Pop-Art an den U-Bahn-Stationen oder abrissgefährdete Reste der Ostmoderne wie am Jahnstadion von 1987 – und irgendwann wird das letzte von Punks besetzte Haus der Stadt unter Denkmalschutz gestellt, wird Kreuzberg zu Montmartre.

Berlin, Mauerrest am Nordbahnhof

Ich bin ein Berliner

Zwischen „Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten!“ und „Das gilt meines Wissens ab sofort, unverzüglich“ lagen 28 Jahre – und nochmal so viele zwischen dem unglaublichen Jahr 1989 und heute (2017). Wie Dominosteine fielen damals die Grenzen des Ostblocks, eingeleitet vom Paneuropäischen Picknick an der Österreich-Ungarischen Grenze und der Grenzöffnung 50 Kilometer östlich von Wien. In den 28 Jahren, in denen die Mauer stand, verloren fast 2000 Menschen ihr Leben beim Versuch, das eigentlich Selbstverständliche zu erreichen: persönliche Freiheit, Entfaltungsmöglichkeiten, Sicherheit; und dann verschwand der Wahnsinn plötzlich, ohne dass auch nur ein Schuss fiel.

Heute wurde dieser Menschen in Berlin gedacht, am 13. August 1961 begann der Bau der „Schandmauer“. Bis heute ist sie in Berlin an vielen Stellen fühlbar, mal wird das Andenken zelebriert wie in der Bornholmer Straße, mal sind es kurze Abschnitte, die als Einfriedung irgend eines Grundstücks dienen. Heute ist Europa dabei, sich zu verändern, seine Ideale zu verlieren. Anscheinend muss jede Generation alle bisherigen Fehler wiederholen, um zu lernen; als Amerika noch echte Staatsmänner als Präsidenten hatte, sagte John F. Kennedy:

„Vor zweitausend Jahren war der stolzeste Satz ‚Ich bin ein Bürger Roms‘. Heute, in der Welt der Freiheit, ist der stolzeste Satz ‚Ich bin ein Berliner‘.
Alle freien Menschen, wo immer sie leben mögen, sind Bürger Berlins, und deshalb bin ich als freier Mensch stolz darauf, sagen zu können:
‚Ich bin ein Berliner‘!“

Es wird Zeit, dass die Europäer wieder Berliner werden.

https://www.lpb-bw.de/mauerbau.html

https://www.planet-wissen.de/geschichte/persoenlichkeiten/die_kennedys/pwiejohnfkennedysrede100.html

Berlin, Brandenburger Tor

Berlin

Berlin also. Lang hab ich mich gedrückt, ich wollt’ ja nie so richtig hin, weil ich mich geärgert habe, diese seltsame, im Meer der Finsternis schwimmende Insel nicht rechtzeitig vor dem Mauerfall angesteuert zu haben.

Aber jetzt: Endlich da.

Und ich war nicht vorbereitet auf die Wucht, mit der die Stadt mit Geschichte aufgeladen ist. Am 9. November 1989 saß ich vor meinen kleinen Schwarzweissfernseher, mit offenem Mund und feuchten Augen. Und heute reichen allein die Namen, um mich zutiefst zu erschüttern: Von Wannsee nach Spandau sind es nur paar S-Bahn-Stationen, das Olympiastadion dazwischen. Brandenburger Tor, Reichstag, Friedrichstraße, Bornholmer Brücke, Bahnhof Zoo ohne Kinder vom, Unter den Linden, Berlin Alexanderplatz. Und da, wo einfach ein paar Pflastersteine den früheren Verlauf der Mauer andeuten, hab ich noch die Stimme einer Frau im Ohr, die etwas zu spät dran war: “Ick will doch nur eenmal im Leben durchs Brandenburger Tor gehn, nich’ mehr!” – und der plötzlich weichgewordene Stasi-Offizier geht mit ihr nach dem Ende der Mauerparty tatsächlich von Osten her durch die Sprrerrzone, das seltsame Paar ist als Schattenriss einsam zwischen den Säulen zu sehen.

Damals hat mein Europa begonnen, und die Liebe hat seither nie mehr nachgelassen.