Rotes Wien 1919-1934

Das Rote Wien - das ist ein "langes Jahrzehnt" von 1919 bis 1934, ein Jahrzehnt, das ganz Europa eine unglaubliche Erneuerungswut aufzwang. Les années folles, the roaring twenties, die wilden Zwanziger... Überall wurden alte Konventionen überwunden, Neues probiert. Trotz der neuen Grenzen war die Elite Europas weiterhin bestens vernetzt, war Wien intellektuelles Zentrum eines plötzlich viel zu kleinen Staates. Vor dem ersten Weltkrieg beherrschte ein glanzvolles Dreigestirn an Städten - Wien, Prag, Budapest - die Mitte des Kontinents, eingebettet in einen Wirtschaftsraum, der stärker integriert war als die heutige Europäische Union. Nur wenige Jahre später war "Deutschösterreich" der arme Mann an der Donau, in dem die politischen Lager nur Misstrauen für Andersdenkende übrig hatten.

Der viel zu schwache Staat leugnete sich von Beginn an selbst, die ungeübten Schritte in eine Demokratie, deren Meinungsverschiedenheiten gewalttätig auf der Straße ausgetragen wurden, führten schlussendlich in eine Sackgasse. Gleichzeitig inspirierte die verarmte Metropole Literaten wie Stefan Zweig, Egon Erwin Kisch und Anton Kuh. Es war die Stadt von Genies wie Franz Kafka, Robert Musil, Karl Kraus und Arnold Schönberg, aber auch milliardenschwerer Emporkömmlinge und schillernder Glücksritter wie Camillo Castiglioni. Franz Werfel buhlte um Alma Mahler, Sigmund Freud erforschte die Träume; Jet-Set neben bitterster Armut, die goldene Zeit der Operette, aber auch einer Tante Jolesch, der Kaffeehäuser und der komischen Käuze wie des legendären Anwalts Dr. Sperber oder Opportunisten wie Helmut Qualtingers "Herr Karl".



In dieser Zeit des Umbruchs, in einem verarmten Staat, in einer verletzten Stadt, wurden Utopien verwirklicht: Die Vision, dass die bisher fast rechtlose Arbeiterschaft durch hygienische Wohnungen, durch Bildung und durch zeitgemäße medizinische Versorgung zu einem gleichberechtigten Teil der Gesellschaft werden könne. Am 21.9.1923 beschloss die Gemeindeverwaltung, in den kommenden fünf Jahren je 5.000 Wohnungen zu errichten – es war der Beginn des größten Wohnbauprogramms seiner Zeit. Finanziert wurde das Programm mit den "Breitner-Steuern": Luxussteuern auf praktisch alles, was über den Konsum einfacher Arbeiter hinausgeht. Genommen von den Wohlhabenden, gewidmet den Bedürftigen - und bis zur Ausschaltung der Sozialdemokratie nach den Unruhen vom Februar 1934 ist es immer derselbe Satz, der triumphal auf jedem Gemeindebau dieser Zeit prangt:

ERRICHTET AUS DEN MITTELN DER WOHNBAUSTEUER

"Wenn wir einmal nicht mehr sind, werden die Steine für uns sprechen": Das war der berühmte Kernsatz der Rede von Bürgermeister Karl Seitz zur Eröffnung des Karl-Marx-Hofes. Im heutigen Österreich sind die furchtbaren Kämpfe der Zwischenkriegszeit weitgehend vergessen; geblieben sind die Gemeindebauten des Roten Wien als Denkmal der Idee, die Menschen mit den Mitteln der Demokratie davon zu überzeugen, dass sie ungeachtet ihrer Herkunft oder ihres Standes das Recht auf ein würdiges Leben haben.



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